43. Filmfestival Max Ophüls Preis: NESTWÄRME – MEIN OPA, DER NATIONALSOZIALISMUS UND ICH von Eric Esser


Still aus NESTWÄRME von Bernhard Nick ©Julia Geiß

War Opa ein Nazi?

War Opa ein Nazi? Diese Frage stellen sich viele Deutsche, die etwa in den 1970er oder 1980er-Jahren geboren wurden – zumindest sollten sie sich die Frage einmal stellen. Regisseur Eric Esser, Jahrgang 1975, geht der Frage nach dem Verhalten seines Großvaters während der NS-Zeit in seinem Dokumentarfilm NESTWÄRME – MEIN OPA, DER NATIONALSOZIALISMUS UND ICH ausführlich nach, sichtet Erinnerungen, befragt noch lebende Verwandte, durchforstet Archive und spricht mit Historiker:innen. Sein Film ist eine Annäherung an einen Mann, der Eric Esser nah, aber in vielerlei Hinsicht auch fremd war: Es geht um seinen Opa Albrecht Esser.

Alles beginnt mit Eric Essers eigenen Erinnerungen an seinen Großvater, der 1992 verstarb, als Eric Esser 17 war. Esser hat ihn als warmherzigen Menschen in Erinnerung, der sich gern mit ihm beschäftigte und mit ihm Seifenblasen durch die Luft blies. Doch dann findet Eric Esser im Nachlass seines Großvaters ein Video von einem Volksfest im Jahr 1941, das ihn tief verstört: Im Video trägt sein Opa Albrecht ein Hakenkreuz am Revers seines Anzuges – und schaut direkt in die Kamera. Den Blick seines Großvaters kann Eric Esser nicht richtig deuten. Trägt sein Opa das Hakenkreuz mit Stolz? Das Bild, das Eric Esser von seinem Großvater hatte, der Kaufmann in einem Betrieb für Rundstrickmaschinen war, nach dem Krieg mehrmals nach Israel reiste und mit einem Holocaust-Überlebenden befreundet war, bekommt plötzlich tiefe Risse.

Eric Esser fängt an, Fragen zu stellen. Sein Vater Eckart, sein Onkel Klaus und seine Tante Hiltrud sind seine ersten Ansprechpartner:innen, doch allzu viel erfährt Eric Esser nicht von ihnen. Albrecht Esser habe die Nazis kritisch gesehen, erzählt sein Sohn Klaus. Warmherzig sei er in ihrer Kindheit nicht gewesen – da sind sich die Geschwister einig. Doch Eric Esser fragt sich, ob sein Großvater Parteimitglied der NSDAP war – und fährt ins Bundesarchiv in Berlin, in dem 12,7 Millionen Mitgliederkarteien des NSDAP verwahrt werden. Esser recherchiert auch in verschiedenen Stadtarchiven und stößt schließlich auf eine Information, die von zentraler Bedeutung für die Einordnung des Verhaltens seines Großvaters während der Nazizeit zu sein scheint: Laut seiner sogenannten „Spruchkammer-Akte“, die nach dem Krieg erstellt wurde, war Albrecht Esser in erster Ehe mit der „Tochter einer Jüdin“ verheiratet.

Doch stimmt das wirklich? Mit einem befreundeten Historiker und einem Juristen, der für die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg tätig war, versucht Esser, die neu gewonnenen Informationen einzuordnen. Innerhalb seiner Familie stößt er mit seinen immer tiefergehenden Recherchen jedoch zunehmend auf Unverständnis. Albrecht Essers drei Kinder ringen um ihre Erinnerungen an den verstorbenen Vater. Und auch Eric Esser selbst zweifelt immer wieder, hinterfragt sich selbst und die Hoffnungen, Ängste, Schuldgefühle und Widersprüche, die er während der Recherche empfindet.

Der Dokumentarfilm NESTWÄRME – MEIN OPA, DER NATIONALSOZIALISMUS UND ICH ist eine sehr persönliche, spannende und erschütternde Reise in die Vergangenheit der Familie des Regisseurs Eric Esser. Doch über seine persönliche Geschichte hinaus zeigt Esser in seinem Film auf, was in vielen deutschen Familien noch immer vorherrscht: Schweigen über das Verhalten der eigenen Eltern oder Großeltern während der NS-Zeit, Verdrängen, Relativieren oder Nicht-Wahrhaben-Wollen. Durch den Einblick in den Prozess der sogenannten „Entnazifizierung“ nach dem Krieg, den Esser im Zuge der Dreharbeiten erhält, muss er feststellen, dass diese von Seiten der Behörden nur sehr oberflächlich stattgefunden hat – und dass es offenbar nicht allzu schwierig war, sich herauszureden, um einer Strafe zu entgehen. Behörden versagten auf ganzer Linie und auch in vielen Familien ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus bis heute nicht abgeschlossen. Vielleicht kann Eric Esser mit seinem Film einen Anstoß geben, endlich mit gründlicher und umfassender Aufarbeitung zu beginnen – nicht nur, aber auch in der eigenen Familie.

Stefanie Borowsky

NESTWÄRME – MEIN OPA, DER NATIONALSOZIALISMUS UND ICH, Regie: Eric Esser. Mit: Eckart Esser, Hiltrud Glaser, Klaus Esser, Albrecht Esser, Dietrich Kuhlbrodt, Renate Esser, Matthias Heyl u.a.

Verfügbar bis 30. Januar 2022 als Stream auf der Website des Filmfestivals Max Ophüls Preis.