65. DOK Leipzig: LOVE IS NOT AN ORANGE von Otilia Babara


Filmstill aus © DOK Leipzig 2022 / LOVE IS NOT AN ORANGE, Otilia Babara

Gekaufte Liebe

Sag mir nicht, dass du mich liebst, sondern zeig es mir mit Objekten. Nach diesem Motto behandeln die aus Moldawien migrierten Mütter ihre Kinder in Otilia Babaras Dokumentarfilm LOVE IS NOT AN ORANGE.

Die Republik Moldau gehörte einst zu Rumänien und dann zur Sowjetunion. Seit 1991 ist das Land unabhängig. Die Unabhängigkeit bedeutete politisch einen Neubeginn, der jedoch schon bald eine tiefgreifende wirtschaftliche Krise und eine Inflation auslöste. In den 1990er Jahren kam es deshalb zu einer großen Arbeitsmigration in westliche europäische Länder. Viele Eltern-Kind-Beziehungen fußten in der Republik Moldau deshalb allein auf einem postalischen Austausch. Die im Ausland arbeitenden Mütter oder Väter schickten riesige Pakete oder Briefe mit Geld und Geschenken. Im Gegenzug erhielten sie Videoaufnahmen von ihren Kindern und Partnern, um den Alltag und die Entwicklung ihrer Töchter und Söhne miterleben zu können.  Babara begrenzt sich in LOVE IS NOT AN ORANGE auf die Beziehung der migrierten Mütter zu ihren Kindern.

In einer reduzierten Methode benutzt sie ohne viele Kommentare ausschließlich Archivmaterial bestehend aus Heimvideos. „Wir wollten eine Erzählung des Archivs kreieren, die es schafft, für sich selbst zu sprechen, ohne eine Stimme, die das Publikum durch den Film leitet“, so Babara. „Das war die Herausforderung.“

In den Videobildern erscheinen die Mütter der moldawischen Familien nicht. Nur am Anfang des Films sieht das Publikum weinende Mütter in Zügen mit Koffern, bevor sie nach Italien oder in andere Länder migrieren. Konsequent ersetzt Babara die körperliche Nähe der Mütter mit Objekten aus dem Westen. Und kritisiert damit den globalen Kapitalismus, die Bestechlichkeit von Menschen. Eine Tochter bekommt etwa einen roten Lippenstift und durchsichtigen Nagellack verpackt in einem glitzernden Plastikherz. Alle Kinder erreicht immer wieder Schokolade in allen erdenklichen Formen. Als riesengroßes Überraschungsei oder klassische Tafel. Auch erschwingliche Schuhe oder Telefone sind in den Paketen aus dem Westen enthalten, die es im eigenen Land nur zu Wucherpreisen gibt.

LOVE IS NOT AN ORANGE zeigt immer wieder die Freude und Aufregung der Kinder, die die Pakete mit großen Augen ungeduldig aufreißen. Zudem treibt die moldawischen Familien die Hoffnung an, ihre Mütter bald wiederzusehen. Doch im Laufe der Doku kippt die Stimmung. Während einer Choraufführung in einer Schule, die mit einem Lied die nicht anwesenden Mütter besingt, beginnt ein Mädchen in der ersten Reihe zu weinen. Auch den Jungen neben sich steckt sie an. Selbst die Erwachsenen ergreift die Verzweiflung. Ein alleinerziehender Vater, der sein Haus für seine Familie renoviert, ist erschöpft. Eine Aufnahme zeigt die kapitalistische Zwickmühle, in der er sich befindet. Er wechselt zwischen Trauer, aber auch Hilflosigkeit. „Ich habe es satt, zu arbeiten, herzumzulaufen und Geld auszugeben,“ spricht er für seine Frau in die Kamera. Und dennoch folgt dann: „Arbeite, Zina, schick uns Geld.“

Mit Stimmen von Müttern aus dem Off, die die Archiv-Bilder kontextualisieren und verbinden, kreiert Barbara die einzige Außenperspektive. Zudem schafft es die Dokumentation durch die Montage, wackelnde Amateurvideos, die für etwas sehr Privates und Individuelles stehen, dem Publikum zugänglich zu machen.

Die Republik Moldau hat seit der Erlangung der Unabhängigkeit etwa siebenunddreißig Prozent seiner Bevölkerung durch Migration verloren, wie es im Abspann heißt. Bis heute prägt die angespannte finanzielle Lage das Land. Renten und Einkommen zählen zu den niedrigsten in ganz Europa. Nach Angaben des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und europäische Integration der Republik Moldau (MFAEI) aus dem Jahr 2021 liegt die Zahl der im Ausland lebenden moldauischen Bürger zwischen 1,11 und 1,25 Millionen Menschen. Die tatsächliche Zahl ist vermutlich sogar noch höher, räumt das MFAEI ein. Im Verhältnis zu knapp 2,6 Millionen moldauischen Einwohner*innen, machen diese Zahlen eine enorm große Migrationspopulation aus. Fast jede*r zweite Moldauer*in lebt demnach im Ausland.

LOVE IS NOT AN ORANGE, Regie: Otilia Babara, Belgium, Moldova, Netherlands, France. 2022, 73 min.