66. DOK Leipzig: Eindrücke aus dem Wettbewerb „Internationaler Animationsfilm“


NO CHANGES HAVE TAKEN IN OUR LIFE © DOK Leipzig 2023 / NO CHANGES HAVE TAKEN IN OUR LIFE, Xu Jingwei
Stuff, den wir so zurücklassen © DOK Leipzig 2023 / NO CHANGES HAVE TAKEN IN OUR LIFE, Xu Jingwei

Verlassene Vorstadttristesse, ein Greis auf Krücken humpelt an ausgestorbenen Fassaden vorbei. In einem Fenster lässt eine Sexarbeiterin gelangweilt ihr bestrumpftes Bein kreisen. Der Greis schaut hin. Schnitt. Er verlässt das Stundenhotel. Und bricht tot zusammen. Schnitt. Mit einer unglaublich genauen Beobachtungsgabe und bissigem Humor zeigt Xu Jingweis NO CHANGES HAVE TAKEN IN OUR LIFE ein China, das man selten sieht. Mit dem erfolglosen, frisch graduierten Tubaspieler Ba zieht das Publikum durch Großstadtperipherie, immer denen auf der Spur, für die sich das Heilsversprechen des spezifisch chinesischen Wirtschaftssystems im kommunistischen Anstrich nicht erfüllt hat. Es gibt keine Arbeit für Ba und der Vater hat eine neue Frau, die ihn gleich wieder rausgruselt.
NO CHANGES HAVE TAKEN IN OUR LIFE ist ein großartiger Beitrag, den die diesjährige Animationsfilm-Jury aus den Animationsfilmemacherinnen Anne Isensee und Irina Rubina sowie Pavel Horáček völlig zu Recht mit der Goldenen Taube prämierte. Und der mit vier anderen langen Animationsfilmen um den Hauptpreis konkurrierte – erstmals, denn sonst liefen die langen Animationsfilme (ohnehin meistens AniDocs) mit den Dokumentarfilmen in den Wettbewerben.

Streng genommen ist NO CHANGES HAVE TAKEN IN OUR LIFE mit seiner Laufzeit von 43 Minuten ja aber ohnehin ein mittellanger Film. Ein spezielles Format, ein Zwischending, das Ideen nachgeht, aber sie doch nicht erzählerisch oder formal verdichtet oder elaboriert. Damit bildet der chinesische Film allerdings einen regelrechten Trend ab: Animationskurzfilme werden in den letzten Jahren stetig länger (anekdotische Evidenz, die aber auch Pia Djukic für das Festival of Animation Berlin oder André Eckardt für die Programmkommission der DOK Leipzig in Interviews/Hintergrundgesprächen bestätigen). Weitere Beispiele dafür waren auch bei der DOK zu sehen: ZOOPTICON von Jon Frickey, Thies Mynther, Sandra Trostel (29 Minuten), MOONLESS von Adheep Das (24 Minuten) und nicht zuletzt ZIMA von Tomek Popakul und Kasumi Ozeki (26 Minuten), der auch eine Special Mention erhielt.

Betörend schön animiert © DOK Leipzig 2023 / SULTANA'S DREAM, Isabel Herguera
Betörend schön animiert © DOK Leipzig 2023 / SULTANA’S DREAM, Isabel Herguera

Außer Konkurrenz lief in Leipzig im Langfilmbereich SULTANA’S DREAM von Isabel Herguera (Premiere in Annecy), der auf dem gleichnamigen bengalischen Geschichte der muslimischen Feministin Rokeya Begum basiert: Sie beschrieb 1905 eine Gesellschaft, in der die Frauen die tragenden Rollen übernehmen, die Männer dafür das Haus hüten. Im Film findet die Protagonistin Inés das Buch und ergründet das Schicksal der Schriftstellerin, ihre Recherche überkreuzt sich dabei immer wieder mit der eigenen Selbstfindungsreise. SULTANA’S DREAM mäandert assoziativ von der imaginierten in die „reale“ Welt, kombiniert unter anderem Aquarell- und Cut-Out-Animation; die filigrane, handgezeichnte 2D-Animation ist von der Hennamalerei (Mehndi) inspiriert. Das ist visuell unglaublich beeindruckend und meditativ, allerdings dramaturgisch wenig überzeugend, da sich nie Spannung aufbaut – und so entwickelt SULTANA’S DREAM nie eine Dringlichkeit, die über die persönliche Faszination hinaus weist.

Auch zwei andere Langfilme konnten in dieser Hinsicht nicht überzeugen: KNIT’S ISLAND von Ekiem Barbier, Guilhem Causse, Quentin L’helgoualc’h und JOHNNY & ME von Katrin Rothe. KNIT’S ISLAND ist eine Art Meta-Dokumentation über die Gaming-Welt und die Frage, was Menschen motiviert, die viel Zeit in Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspielen verbringen. 963 Stunden hat das Dokumentarfilmteam innerhalb des postsowjetischen McCarthyesken Videogames DayZ verbracht und dort mit unterschiedlichen Playern gesprochen – die zum Teil ihre Persona verließen und reflektierten, oder in ihr total aufgingen, wie eine marodierende Kannibalistenbande, die just for fun ihr aktuelles Mann-Spielzeug mal schnell abknallen. Am interessantesten ist KNIT’S ISLAND dann, wenn die Gaming-Welt an die Grenzen stößt bzw. die Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Realitäten auch formal offenlegt: Eine Playerin muss beispielsweise IRL ihr schreiendes Baby beaufsichtigen und verlässt den Raum – ihr Character bleibt in der Bewegung gefroren stehen und blickt weiterhin den Zuschauer*innen in die Augen. Das alles ist interessant, aber eben auch nicht mehr als das; man vermisst die Prägnanz eines MARTIN CRIES. In keinem Fall trägt es aber über 90 Minuten.
Auch bei JOHNNY & ME lässt sich fragen, ob die Grundidee – die Faszination mit John Heartfield, seiner Kunst, aber vor allem seiner Biografie – wirklich als hölzerner Dialog zwischen einer fiktiven, von einer Schauspielerin verkörperten Grafikerin und einem Heartfield-Cut-Out über 100 Minuten inszeniert gehört. Ganz egal, was für spannende biografische Highlights sie dabei zutage bringt.

Sehnsucht nach Horizont © DOK Leipzig 2023 / ZIMA,  Tomek Popakul, Kasumi Ozeki
Sehnsucht nach Horizont © DOK Leipzig 2023 / ZIMA, Tomek Popakul, Kasumi Ozeki

Ausgerechnet ein weiterer langer Kurzfilm mit fast schon mittellangen Ambitionen machte dafür dann zufrieden sprachlos: Der bereits erwähnte ZIMA über das Teenagermädchen Anka, die in einem kleinen, traditionsreichen polnischen Dorf aufwächst, alkoholisierte Männlichkeitsrituale inklusive. ZIMA besticht nicht nur durch seinen roughen, mutigen Animationsstil, sondern auch durch seine assoziativen Erzählstränge, in der der adoleszente Wunsch aus der Dorfgemeinschaft auszubrechen mit fantastisch-mythischen Elementen wie sprechenden Tieren zu einer dichten, poetischen Form zusammenfinden. Ob es sich dabei letztendlich um eine Emanzipationsgeschichte, Sozialkritik oder Fantasy handelt, bleibt offen, weil der Film klare Deutungen nicht zulässt. Olga Tokarczuk lässt grüßen. Das ist ein großes Filmglück.

Marie Ketzscher