66. DOK Leipzig: HOME SWEET HOME von Annika Mayer


HOME SWEET HOME © DOK Leipzig 2023 / Rolf Schirm
HOME SWEET HOME © DOK Leipzig 2023 / Rolf Schirm

Trautes Heim, Glück allein. Nicht nur ein doofer und oberflächlicher Kalenderspruch, sondern in Realität oft auch absolut Pustekuchen. Zum Beispiel bei der Familie Mayer: Hinter der gepflegten schwäbischen Häuserfassade mit der schönen Hecke findet über 23 Jahre eine stille Familientragödie statt, die fast keiner mitbekam: Annika Mayers Großmutter Rose wurde zweieinhalb Jahrzehnte von ihrem Ehemann Rolf verdroschen, erniedrigt, beleidigt, in die Enge getrieben. Rekonstruiert und auch (jenseits der Familienerzählungen) zutage gebracht hat das nun also die Enkelin selbst. Sie sichtete das Super-8-Material aus den 50er, 60er und 70er Jahren, das dank der regen Hobbytätigkeiten ihres verstorbenen Opas in Hülle und Fülle vorlag, und suchte darin nach den Spuren der häuslichen Gewalt, die natürlich nie direkt vor der Kameralinse stattfand. Das allein ist schon fast investigative und oft interpretatorische Arbeit – denn was könnte so eine Spur schon sein? Das aufgesetzt wirkende Lächeln des Opas, die Oma, die schnell aus dem Bild verschwindet, die Distanz zwischen den Eheleuten? Oder ist das, was man auch als kindliche und dann pubertäre Überdrüssigkeit mit den Erwachsenen deuten könnte, eigentlich das Bewusstsein der beiden Söhne für die katastrophalen Zustände?

Annika Mayer hat das Material unaufgeregt montiert; in einer weiteren Zusammenarbeit mit ihrem Produzenten Jakob Krese. In HOME SWEET HOME schaut sie einzelne Szenen mit Oma Rose, kommentiert mit ihr – von den Anfängen, als Rose die Schule verlassen musste, um den 13 Jahre älteren Rolf zu ehelichen, bis zur Zeit kurz vor der Scheidung. Es ist ein unheimliches Protagonist*innenglück, das sie da geniest: Rose kommentiert immer nüchtern, beißend-pointiert, humorvoll, reflektiert. Eine toughe Mutter und Ehefrau, die der Ex-Ehemann nicht hat zermürben könne; eine charakterliche Stärke, die ihn vermutlich zusätzlich immer wieder getriggert hat. Und die sich schließlich, mit Unterstützung ihrer Söhne, aus der Ehehölle befreien konnte. Keine Selbstverständlichkeit.

Natürlich hätte sich Annika Mayer aufmachen können, die Ursachen der sinnlosen, fürchterlichen Gewalt noch genauer zu ergründen – und manchmal klingen diese auch an. Etwa, als es darum geht, dass ihr Opa schon als Heranwachsender ein glühender Nazi war. Und im Krieg sein größtes kameradschaftliches Glück nebst Autoritätsgefühl erlebt hat. Sein Waffenfaible ist eines der dunkelsten Ehekapitel: Bisweilen wurde Rose von Rolf bedroht, ohne, dass sie wusste, ob die Waffe geladen war oder nicht. Aber Gott sei Dank bleibt Annika Mayer bei ihrer Oma, lässt den Opa, der ja nun mal eben Täter war, nicht zu sehr in den Vordergrund geraten. Und überlässt der fantastischen Oma so vollständig die Bühne.

Die Stärke von HOME SWEET HOME liegt dann eben auch in der Nähe zwischen Oma und Enkelin, die sich immer wieder zeigt, im offenen Dialog zwischen den beiden. Außerdem hat sich Annika Mayer entschieden, das Systemische, das ihrem Film innewohnt – alle vier Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer häuslicher Gewalt; fast jeden dritten Tag wird eine Frau von einem Expartner umgebracht – nicht auszubuchstabieren. Aber sie guckt sich subtil mit, diese ungemütliche Realität. Zudem wird deutlich, dass häusliche Gewalt eben kein Klassenphänomen ist, sondern auch Frauen aus gut situierten sowie Akademikerhaushalten betrifft; damit rührt HOME SWEET HOME an ein weiteres starkes Tabu in unserer ach-so-aufgeklärten Zeit.

Dass die von Annika Mayer gewählte Subtilität und Unaufgeregtheit ihre volle unter die Haut kriechende Wirkung entwickeln können, liegt unter anderem am Komponisten und Sound Designer Gaston Ibarroule, der die bisweilen bis in den Stillstand entschleunigten Bilder mit verzerrten, atonalen Sounds als unheilvolle Momente inszeniert. Und so den Horror in den eigenen vier Wänden noch greifbarer macht. Ein friedliches Familienidyll, ob auf Super-8, im angestaubten Fotoalbum oder als Selfiegrinsen auf Insta kann eben, das zeigt HOME SWEET HOME eindrücklich, auch ganz andere Dinge verbergen. You better don’t believe your eyes.