66. DOK Leipzig: SICK GIRLS von Gitti Grüter
Was hast du nochmal gesagt?
Unruhig, laut, impulsiv. Personen, die eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung haben, kurz ADHS, werden in der Regel mit diesen oder ähnlichen Verhaltensmustern abgestempelt. Doch, dass es hinsichtlich des Geschlechts verschiedene Ausprägungen von ADHS geben kann und dass besonders weibliche Rollenerwartungen eine Diagnose bei Frauen erschweren oder gar verhindern können, scheint die Medizin oft zu vergessen.
Gitti Grüters sehr persönlicher Hybrid-Narrativ-Dokumentarfilm SICK GIRLS, der auf dem 66. DOK Leipzig im deutschen Wettbewerb läuft, begleitet fünf Frauen mit unterschiedlichsten Lebenssituationen. Sie alle eint die ADHS-Diagnose. Eine Person davon ist Gitti selbst, die in der Pubertät ebendiese Diagnose enthielt und relativ schnell Medikamente verschrieben bekam.
In einer Spezialsprechstunde mit einem ADHS-Experten prüft die Figur Gitti im Laufe des Films, wie gerechtfertigt ihre Diagnose ist. Schnell wird klar, dass eine ADHS-Diagnose bei Frauen oft schwieriger als bei Männern zu sein scheint. Denn weibliche Personen entwickeln ebenjene Störung oft erst später als Jungen. Geschlechtliche Stereotype – etwa, dass Frauen nicht zu laut und aggressiv sein dürfen – schreiben sich zudem in der Regel schon früh in weibliche Verhaltensweisen ein. Die Folge: Äußere Symptome von ADHS können schon mal unbewusst unterdrückt werden oder sich ins Innere verlagern, wie eine Protagonistin in der Doku berichtet. Sara, eine der Protagonistinnen erzählt zudem, dass sie schon als Kind „als Schlampe“ galt, weil sie „zu laut“ war. Von männlichen oder weiblichen Verhaltensattributen hält sie nicht viel. Damit fällt sie aus dem Raster. Und gilt oft als sozialer Outcast.
SICK GIRLS kritisiert den ausgeklammerten Einfluss von geschlechtlichen und sexuellen Normen auf psychologische Diagnostik-Verfahren sowie eine Medizin, die sich ausschließlich auf das männliche Geschlecht fokussiert. Zugleich entstigmatisiert Grüter mit einer guten Portion Selbstironie ADHS und fragt, was es im heutigen leistungsorientierten Neoliberalismus bedeutet, dass die Anzahl der ADHS-Diagnosen in den letzten Jahren rasant anstieg. Und deren Behandlung mit Medikamenten fast alltäglich geworden ist.
Der Hybrid-Dokumentarfilm begleitet die fünf Frauen manchmal fast komödiantisch in ihrem Alltag, die Figur Gitti innerhalb der ADHS-Spezialsprechstunde und zeigt – im Herzstück der Doku – immer wieder die fünf Frauen, die sich in einem Raum im Kreis sitzend treffen, um sich gegenseitig über Sorgen, Ängste und Probleme, die ADHS mit sich bringt, auszutauschen.
Besonders beeindruckt SICK GIRLS zudem durch sein stringentes, aufgehendes Konzept. Denn typische ADHS-Symptome, wie Reizüberflutungen oder Konzentrationsschwierigkeiten, greift der Film einerseits inhaltlich im Bild auf, indem er etwa Interviews zeigt, die eigentlich keine sind. Denn die Protagonistinnen können sich oft nicht inhaltlich auf das Gespräch konzentrieren, sondern freuen sich, dass die Sonne so schön scheint, wollen lieber eine Zigarette rauchen oder auf das Handy gucken. Anderseits vermitteln besonders auch die filmischen Mittel, wie der Ton und die Montage, wie es ist, mit ADHS durch die Welt zu gehen. Hört Gitti dem ADHS-Spezialisten zu lange zu, so fadet etwa der Ton zu einem Rauschen aus. Immer wieder sehen wir wackelnde Handkameras in Point-of-View-Einstellungen, die das Schlendern durch einen belebten Ort, wie einen Rummel, zeigen. Voller Farben, Tönen und schnellen Kamerabewegungen kann dem Publikum da schon mal schwindelig werden.
Mit viel Witz und sarkastischer Schärfe thematisiert SICK GIRLS Gender-Klischees in Bezug auf ADHS. Und schafft es, durch den gezielten Einsatz von filmischen Mitteln, ein Gefühl für ebenjene Störung zu erzeugen. Nachhallend tut besonders das unverbrauchte Thema sowie die Haltung des Films – eine gewisse Angerocktheit, die gerne auch mal laut ist.
SICK GIRLS, Regie: Gitti Grüter. Deutschland 2023, 79 min.
Termin beim 66. DOK Leipzig:
14.10., 17:00 Uhr, in der Leipziger Schauburg