66. DOK Leipzig: STILLSTAND von Nikolaus Geyrhalter


STILLSTAND © DOK Leipzig 2023 / NGF
STILLSTAND © DOK Leipzig 2023 / NGF

Pandemie – ach ja, war da was?

„2020 hat sich einfach wie eine Verlängerung von 2019 angefühlt, gar nicht wie ein eigenes Jahr“, resümiert eine Wiener Abiturientin 2021 die bisherige überwundene Pandemie-Zeit. So wie sie haben sich viele gefühlt. Bleiern, endlos, zeitlos, ereignislos, Kaugummi-Zeit – so bleibt Corona in Erinnerung. Aber wieder drüber nachdenken, was diese Zeit so ausgemacht und mit uns als Gesellschaft gemacht hat, das möchten wenige. Seit die letzten Restriktionen gefallen sind, möchten viele eher einfach in eine Normalität zurück, wenn sie zu den Glücklichen gehören, die an so etwas noch anknüpfen können. Schließlich sind unsagbar viele Freundschaften zerbrochen, Tote zu betrauern, das Leben für zahllose Menschen noch prekärer geworden.

Es kann also sein, dass der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter, der spätestens seit UNSER TÄGLICH BROT mit seiner etwas distanzierten, sich-Zeit-nehmenden Art des dokumentarischen Beobachtens eine Koryphäe im internationalen Dokumentationsfilm ist, mit seinem STILLSTAND sein Publikum erst mal zusammensuchen muss. Aber wer sich dann darauf einlässt, kann sicher noch einmal Einiges erfahren – schließlich waren Lockdown, Testung, Restriktionen im Nachbarland Österreich (das gilt vor allem für Zuschauer*innen aus anderen Teilen der Welt) durchaus anders konzipiert.

Die Erinnerungen an die fast alltäglichen Stäbchen in der Nase und die ewige Maske in der Jacke, aber auch die Bilder aus Krankenhäusern, Schulen und Bestattungsinstituten: STILLSTAND zeigt auch, was vielen von uns in Hirn und Psyche gesickert ist und verdrängt werden will. Auch Prozesse und Systemisches interessieren Geyrhalter, wie schon in früheren Filmen: Die Produktion von Masken, die Auswertung in Testzentren, die schier endlosen Berge an produziertem Pandemie-Müll. Darüber hinaus begleitet Geyrhalter Menschen im Pandemiealltag – eine Schulklasse nebst Lehrerin, ein Floristenehepaar, der Betreiber des Gartenbaukinos sowie Politiker*innen. Der Wechsel zwischen distanzierter Beobachtung der Prozesse, die die Pandemie ausmachten, und den Talking-Heads-Interviews wirkt dabei allerdings formal etwas unentschieden.

So viele unterschiedliche Stationen und Lebensbereiche Geyrhalter mit STILLSTAND auch abdeckt, so homogen ist die Bubble, die er beleuchtet: Der Film interessiert sich erstaunlich wenig für die Menschen, die vielleicht nicht ganz so einverstanden sind mit den Maßnahmen der österreichischen Regierung. Nur die dezidierten Corona-Leugner*innen auf den Demos tauchen immer wieder auf, die bekannten und zum Teil schwurbelnden Thesen schwingend, ganz so, als sei die Gesellschaft wirklich nur in diese zwei Extreme gesplittet, als gäbe es keine Menschen, die beispielsweise die ersten Lockdowns für sinnvoll hielten – den Sinn der letzteren aber anzweifelten.

Das ist ein Manko des Films, weil Geyrhalter durch eine Einbeziehung weiterer Protagonist*innen vielleicht den Vertrauensverlust in demokratische Institutionen, die zunehmende Polarisierung und auch die Folgen der Pandemie für gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie mentale Gesundheit insgesamt vielleicht hätte besser herausarbeiten können. So bleibt STILLSTAND eine parteiische Beobachtung, eine lange Momentaufnahme, ohne Bezug zur Post-Pandemie-Zeit. Das wirkt ein bisschen wie eine verpasste Chance.