„Innen Leben“ (OT: „Insyriated“) von Philippe Van Leeuw


Juliette Navis und Hiam Abbass im Kriegsalltagsdrama "Insyriated" von Philippe Van Leeuw © Altitude 100 / Virginie Surdej

Juliette Navis und Hiam Abbass im Kriegsalltagsdrama „Insyriated“ von Philippe Van Leeuw © Altitude 100 / Virginie Surdej

Mutter Courage

Im Badezimmer stehen die Zahnbürsten in Reih und Glied, den Esstisch bedeckt ein weißes Tischtuch, die Wände eines Kinderzimmers sind mit Dave Matthews Postern und russischen Astronautenträumen plakatiert, ein Mädchen sitzt knutschend mit ihrem Freund in einem der vielen Schlafzimmer und im Wohnzimmer macht der Großvater mit dem Jüngsten Hausaufgaben. Durch die Betonvergitterung des Balkons, die eigentlich vor Sonne schützen soll, fällt der Blick auf einen von Zerstörung gezeichneten Innenhof. Zwischen den umliegenden zerbombten Häusern und einem ausgebrannten Autowrack versorgt ein Händler die in den Wohnungsruinen ausharrenden Bewohner aus einer Schubkarre mit dem Nötigsten, solange wie es die Scharfschützen auf den Dächern eben zulassen. Außen- und Innenwelt als großer Widerspruch. Fast unwirklich wirkt die Diskrepanz der Räume. Deutlicher kann die Krise wohl kaum umrissen sein.

Eingeschlossen in Damaskus bietet eine verbarrikadierte Wohnung (etliche Holzbalken müssen jedes Mal von der Tür genommen werden, will man die Wohnung verlassen) Zuflucht und groben Schutz für die überwiegend weiblichen Familienmitglieder um Oum Yazan (Hiam Abbass), eine zähe Frau, die nicht daran denkt, dem Kriegstreiben klein beizugeben und ihre Wohnung zu verlassen.
Auch den Nachbarn aus der zerstörten Wohnung eine Etage höher – ein junges Pärchen mit Baby – ihrer südasiatischen Haushaltshilfe Delhani (Juliette Navis) und dem Freund ihrer ältesten Tochter gewährt Frau Yazan Unterschlupf. Sie ist es, die in der trügerischen Ruhe zwischen dem Kreuzfeuer der Heckenschützen vor der Haustür, den Bombeneinschlägen und den Raubzügen einzelner Rebellen unnachgiebig versucht, den Alltag aufrechtzuerhalten, um das nahe Grauen im echten Wortsinn auszuschließen und jeden Tag aufs Neue die Familie durchzubringen.

Normalität als Mittel gegen Angst und Schrecken, in der die Töchter auch schon mal unbedarft das wenige Vorratswasser für unnötige Bäder und ausgiebige Beinrasuren verschwenden. Doch die erzwungene Routine kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der verwinkelten Wohnung jeder wie durch einen Käfig schleicht. Noch in der Nacht wollen Halima (Diamand Abou Abboud) und Selim (Moustapha Al Kar), die Nachbarn mit dem Baby, mit Hilfe eines Reporters in den Libanon fliehen. Ihr Plan wird allerdings durchkreuzt, als Selim vor der Haustür niedergeschossen wird. Die Situation scheint ausweglos und weil niemand helfen kann, solange die Scharfschützen auf den Dächern sitzen, bittet Oum Yazan Delhani bis zum Abend Stillschweigen über den Vorfall zu bewahren und Halima nichts zu sagen, denn sie weiß, auch auf den Fluren laufen bereits die Schakale hungrig auf und ab. Schafft es einer in die als Festung gewähnte Wohnung einzudringen, wird jemand geopfert werden müssen.

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