„Karera ga Honki de Amu toki wa“ („Close Knit“) von Naoko Ogigami


"Close Knit" durfte sich bei der Berlinale über den Jury Preis bei den Teddy Awards freuen. Foto: Berlinale

„Close Knit“ durfte sich bei der Berlinale über den Jury Preis bei den Teddy Awards freuen. Foto: Berlinale

Kirschblüten, Wollpenisse und Tintenfischwürstchen

Die elfjährige Tomo ist auf sich alleine gestellt: Ihre alleinerziehende berufstätige Mutter kommt jeden Abend spät und meistens betrunken nach Hause. Dort stapeln sich der Müll, die Wäsche und das schmutzige Geschirr. Zu Essen gibt es jeden Tag nur Reisbällchen aus dem Konbini – dem japanischen Spätkauf. In der Schule ist Tomo eine Außenseiterin. Nur der schüchterne Kai scheint sich um ihre Freundschaft zu bemühen. Als die Mutter eines Tages überhaupt nicht mehr nach Hause kommt, sucht Tomo bei ihrem Onkel Makio Zuflucht. Der ehemalige Langzeit-Junggeselle warnt seine Nichte jedoch vor: Seit Neuestem lebt er mit seiner Freundin Rinko zusammen. Rinko ist allerdings keine gewöhnliche Frau: Sie ist groß, geradezu übertrieben liebevoll, mütterlich und fürsorglich – und noch nicht sehr lange eine Frau.

Naoko Ogigami ist auf der Berlinale so etwas wie eine alte Bekannte: „Close Knit“ ist der vierte Film, den sie auf den Internationalen Filmfestspielen in Berlin vorstellte. Zuletzt war sie 2012 hier mit „Rentaneko“ („Rent-a-Cat“), einem Film über eine junge Frau, die einen Katzen-Verleihservice für einsame Menschen betreibt.
Ihre Filme sind beliebt für ihre ruhige Erzählweise und die Leichtigkeit mit der sie immer wieder Geschichten von Außenseitern und schwierigen Neuanfängen erzählt. In diesem Jahr präsentierte Ogigami in der Berlinale Panorama-Sektion mit „Close Knit“ einen Film, der jenseits heteronormativer Grenzen aufzeigt, was es bedeutet eine Familie, aber auch eine Frau in Japan zu sein. Dabei geht es um Transgender-Fragen, um gesellschaftliche Akzeptanz, aber auch um Vorurteile und Ausgrenzung und jede Menge handarbeitlich gefertigte Versionen primärer und sekundärer Geschlechtsteile.

„Close Knit“ sollte man vor allem nicht hungrig sehen, denn es wird sehr viel und sehr gut gegessen: Mit ihren Kochkünsten und ihren kunstfertigen Bento-Kreationen – der Zubereitung von Pausensnacks – aber auch durch ihre herzensgute und offene Art erobert Rinko (Toma Ikuta) sehr schnell das Herz der kleinen Tomo (Rinka Kakihara). Geduldig beantwortet sie ihre Fragen, erzählt ihr, wie sie damals, als sie noch ein kleiner Junge war, nicht so viel älter als Tomo, sich nichts sehnlicher als ein Paar Brüste wünschte. Auch wenn Rinko eine gewisse melancholische Schwere umgibt und man ihr die Kämpfe anmerkt, die sie in der Vergangenheit sicherlich hat austragen müssen, um so zu leben, wie sie sich fühlt, scheint sie irgendwie angekommen.
Ihre Mutter, eine energische, unkonventionelle Frau, die mit einem sehr viel jüngeren Mann zusammen lebt, beschützt ihre Tochter wie eine Yakuza. Sie war es auch, die ihrer Tochter das Stricken beibrachte und ihr ihren ersten BH mitsamt passenden, selbst gehäkelten Brüsten zum Ausfüllen schenkte. Heute arbeitet Rinko als Pflegerin in einem Altersheim, ihre Kolleginnen und Kollegen aber auch die Patientinnen und Patienten nehmen sie so wahr, wie sie ist: Als liebevolle Frau mit sehr großen Händen.

In diesem Altersheim, haben sich auch Makio (Kenta Kiritani) und Rinko kennengelernt: Als Makio sah, wie hingebungsvoll Rinko seine Mutter wusch, war es Liebe auf den ersten Blick. Natürlich habe es ihn zunächst verwundert, als er erfuhr, dass Rinko nicht als Frau geboren wurde, aber er habe sich nun einmal in sie verliebt und daran sei nicht zu rütteln. So einfach sei das, erklärt er Tomo. – Das klingt nun fast zu schön, um wahr zu sein: Für kurze Zeit entsteht zwischen den Dreien so etwas wie eine richtige Familienidylle mit Fahrradausflügen unter blühenden Kirschblüten und Picknick im Park.

1 2 3