73. Berlinale: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR von Sonja Heiss


WANN WIE ES ENDLICH SO, WIE ES NIE WAR © Komplizen Film GmbH / Warner Bros. Entertainment GmbH / Frederic Batier

Unkonventionelle Kindheit

Wenn es darum ginge, einen Preis für die ungewöhnlichste Kindheit zu gewinnen, hätte Josse (als Kind: Camille Loup Moltzen, als Teenager: Arsseni Bultmann, als junger Erwachsener: Merlin Rose) sicher die Nase vorn. Weil sein Vater (Devid Striesow) die größte Kinder- und Jugendpsychiatrie Schleswig-Holsteins leitet, wachsen Josse und seine beiden älteren Brüder in den 1970er- und 80er-Jahren in der Direktorenvilla auf dem Klinikgelände auf. Begegnungen und Freundschaften mit den größtenteils minderjährigen Patient*innen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen gehören für Josse zum Alltag.

Josse, der unter gelegentlichen Wutanfällen leidet, die oft seine Brüder durch ihr Verhalten auslösen, geht in der Klinik ein und aus. Mal schaut er mit den Patient*innen Zeichentrickserien im Fernsehen an, mal isst er Pudding in der Großküche, mal rät er mit einer Mitarbeiterin seines Vaters, auf welcher der vielen Stationen eine bestimmte Patientin liegt. Wenn der kleine Josse traurig ist, trägt ihn ein erwachsener Patient, den er den „Glöckner“ nennt, auf seinen starken Schultern und reitet mit ihm über das Klinikgelände. Josse erlebt ständig neue Abenteuer – und muss nebenher erwachsen werden.

Zu der suizidgefährdeten Patientin Marlene (Pola Geiger), die für eine Weile bei den Meyerhoffs einzieht und sich hauptsächlich von BiFi-Würstchen ernährt, fühlt sich Josse mehr und mehr hingezogen. Doch eines Tages entdeckt der mittlerweile 14-Jährige ein Geheimnis, das seinen antiautoritären, liebevollen Vater in einem neuen Licht erscheinen lässt – und seine unkonventionelle, aber gut eingespielte Familie vor eine Zerreißprobe stellt.

Mit WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR, dem autobiografischen Roman über seine 70er- und 80er-Jahre-Kindheit als Sohn des Leiters der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf dem Hesterberg in Schleswig, in der etwa 1500 Patient*innen lebten, gelang dem ehemaligen Burgschauspieler Joachim Meyerhoff, der 2019 an die Berliner Schaubühne wechselte, 2013 ein sensationeller Erfolg. Regisseurin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin Sonja Heiss (HEDI SCHNEIDER STECKT FEST) verfilmt den so witzigen und skurrilen wie anrührenden Bestseller über das Aufwachsen an einem sogenannten Nicht-Ort nun mit prominenter Besetzung.

So sind Devid Striesow als engagierter Psychiater und toleranter Vater und Laura Tonke als Josses sich nach rotweingetränkten Abenden in Italien sehnende und im Wohnzimmer enthemmt zu „Felicità“ von Al Bano und Romina Power tanzende Mutter zu sehen. Axel Milberg verkörpert in einer urkomischen Episode den ehemaligen Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg, der bei einem Besuch auf dem Psychiatriegelände eine unvergessliche Begegnung mit dem Patienten Rudi und dessen Spielzeugpistole hat. Lina Beckmann spielt die Haushaltshilfe der Familie, deren Name die drei Brüder jahrelang zum Lachen bringt: Frau Fick.

Mit einem überzeugenden Szenen- und Kostümbild und der Musik vor allem der 80er-Jahre – u. a. „Eisbär“ von Grauzone, „Enola Gay“ von Orchestral Manoeuvres in the Dark und „Cosmic Dancer“ von T. Rex – lässt Sonja Heiss in verschiedenen Episoden Meyerhoffs Kindheitswelt wiederauferstehen. Auch Menschen mit Behinderung übernahmen kleinere Rollen in dem rundum überzeugend inszenierten Film, der von Josses Leben in verschiedenen Phasen des Erwachsenwerdens handelt, von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter. Den größten Teil des Coming-of-Age-Films nimmt dabei die Zeit als Teenager ein.

Sonja Heiss gelingt es, den heiter-melancholischen Ton der mittlerweile fünf Bände umfassenden Romanreihe von Joachim Meyerhoff zu treffen. Der Titel des Films sowie des zweiten Bandes der Reihe, WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR, spiegelt den Grundtenor der Geschichte wider: die Sehnsucht nach einer Zeit, die nur noch in der – teilweise verklärten – Erinnerung existiert. Dazu passt die Songzeile aus „This Is the Day“ von The The, die zu Filmbeginn erklingt: „All the money in the world couldn’t buy back those days.“ Vieles übernahmen Heiss und ihr Co-Drehbuchautor Lars Hubrich aus dem Roman, so dass Leser*innen einige Schlüsselszenen wiedererkennen werden. Manches ließen Heiss und Hubrich weg oder erfanden es hinzu – Meyerhoff, seine Mutter und sein älterer Bruder gaben ihr Einverständnis.

Filme über Familien gibt es viele und auch die Psychiatrie ist gelegentlich Schauplatz auf der Leinwand, doch in WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR überlappen sich die beiden Mikrokosmen. Grenzen verwischen, was nicht nur interessant anzuschauen ist, sondern zu zahlreichen skurrilen und tragikomischen Momenten führt. Während Josse in den Klinikgebäuden ein- und ausgeht, sind auch die Patient*innen häufig zu Gast im Haus der Meyerhoffs. So zeigt der Film fast nebenbei auf, wie sich zumindest die Schleswiger Psychiatrie in den 70er-, 80er- und frühen 90er-Jahren veränderte und öffnete. „Weg von der Verwahrpsychiatrie“, formuliert es Josses Vater einmal und setzt stattdessen beispielsweise auf Kunst- oder Musiktherapie.

Die Geschichte dieses ungewöhnlichen Aufwachsens in einer unkonventionellen Familie, die sich größtenteils auf dem Gelände der Klinik abspielt, deckt von Kindheitserlebnissen und der ersten Liebe über Eheprobleme der Eltern und einen Schüleraustausch in den USA bis hin zu Krankheit und Tod viele Themen ab, ist spannend, glaubwürdig gespielt, oft zum Brüllen komisch – und gleichzeitig tief berührend.

Stefanie Borowsky

Termine bei der 73. Berlinale:
Sonntag, 19.02.2023, 15:45 Uhr, Cubix 8
Montag, 20.02.2023, 12:30 Uhr, Filmtheater am Friedrichshain

Kinostart: 23. Februar 2023