75. Berlinale: IF I HAD LEGS I’D KICK YOU von Mary Bronstein

Pull the trigger, pull it!
„Mama ist Knetmasse.“ Man bekommt sofort Aggressionen gegen das Kind, das man fast den ganzen Film lang nur quengelig aus dem Off hören wird und das hier die Mutter arglos bis ins Mark beleidigt. Elastizität! Kontrollverlust! Und auch in Lindas (Rose Byrne) Gesicht arbeitet es. Ein angestrengt hochgezogener Mundwinkel, ein ungläubiges Kopfschütteln. Das sieht man genau, denn die Kamera hat sich quasi porentief in ihr Gesicht versenkt. Das ist keine Nahaufnahme, das ist eine absolut intendierte Zu-Nah-Aufnahme. Es soll bitte richtig unangenehm sein, no filter.
Mit diesem stilistischen In-Yer-Face-Mittel, das immer wieder bedrängend eingesetzt wird, startet also Mary Bronsteins Wettbewerbsbeitrag IF I HAD LEGS I’D KICK YOU, eine Art psychologischer Mutterschafts-Horrortrip mit durchaus satirischen Zügen. Die Knetmassen-Situation ist leider Alltag für Linda, denn ihr Kind ist krank und wird künstlich ernährt, jede Stunde ist definiert durch die Fürsorge, die Aufopferung. Weil ihr Mann auf mehrwöchigem Marine-Einsätzen ist, ist sie im Grunde alleinerziehend. Wenn sie das Kind nicht umsorgt oder sich nachts ins einschläfernde Koma trinkt, arbeitet sie als Therapeutin. Als wäre das alles nicht genug, stürzt auch noch die Decke im Wohnzimmer ein, ein riesiges Loch entsteht, sodass die Familie gezwungen ist, in einem Hostel Unterschlupf zu suchen.
Es ist eine Menge unbändiger Wut in IF I HAD LEGS I’D KICK YOU. Sie richtet sich zum einen gegen die Institutionen, zum Beispiel die behandelnde Klinik, die der Familie in ein strenges Regiment aus Gruppentherapie und Einzeltherapie sowie illusorischen Ernährungsplänen aufzwingen möchte. Und dabei ständig Selbstfürsorge und „Zeit für sich“ propagiert – völlig wirklichkeitsfremde Mantras für viele primäre Sorgepersonen (der Film ist nebenher auch eine Abrechnung mit einem Großteil gut gemeintem Therapiesprech). Und zum anderen richtet sich Bronsteins Wut gegen die Gesellschaft als solche, die immer wieder traditionelle Rollenverteilungen monetär belohnt oder ermöglicht. Und so Selbstausbeutung Vorschub leistet. Vor allem die Männer kommen da schlecht weg – sie haben sich als Hauptverdiener aus den Sorgeverantwortungen geschlichen, bemühen aber mit Macht Vorwürfe der Rabenmutterschaft, wenn aus ihrer Sicht nicht gespurt wird.
In all den Erwartungshaltungen, die aber nicht wie praktische Manuals, sondern wie pinkfarbene „You-do-you“-Empfehlungen formuliert sind, findet sich Linda nicht wieder. Nicht mit ihrer Überforderung, nicht mit ihren eigenen Schuldgefühlen, nicht mit der Scham, nicht zu funktionieren. Am liebsten hätte sie jemanden, der ihr mal sagt, dass sie es gut macht – oder dass sie es falsch macht und wie es richtig geht. Und so setzt sich die Eskalation rasant fort. Erst verlässt sie türenknallend die Familientherapiegruppe, dann verschwindet eine postnatal depressive Mutter und schließlich bringt Linda sich und ihr Kind in ernste Lebensgefahr.
Mit ein paar redundanten Erzählsträngen und Loops – so lustig A$AP Rocky als verkiffter Hostelnachbar auch ist, die pseudofreundschaftliche Annäherung hat keinen wirklichen Mehrwert – bringt Mary Bronstein dabei die klaustrophobische Enge der gesellschaftlichen Realität, Panikattacken und den großen inneren Schmerz über verlorene und geborene Kinder auch visuell überzeugend auf den Punkt. Das in der Wohnzimmerdecke aufgerissene Loch ist gleichzeitig Übergang in ein anderes Universum, hinabstürzende bleierne Schwere und Hilflosigkeit – die von Angststörungen oder Schlaflosigkeit betroffene Menschen kennen könnten – und, wie eine Kritikerkollegin natürlich völlig richtig beobachtete: Natürlich ist die klaffende Baustelle auch der Blick in den Uterus, die platzende Fruchtblase, das erschütternde Begrabenwerden unter neuer mütterlicher Verantwortung durch Geburt. Tempo, Wut und Metaphorik passen dabei so gut zusammen, dass sie sogar rezensierende Nicht-Mütter hart, aber immens gut triggern.
Vor allem Rose Byrne ist in diesem mitunter auch sagenhaft lustigem Film eine veritable Tour de Force. Sie spielt Linda völlig uneitel (wenn es in diesem wunderbaren Gesicht Botox gibt, ist es das dezenteste Botox der Welt), getrieben, zwischen ständigen Gefühlsschwankungen, nie mit sich und vor allem für sich allein. Dass es in Familien auch um Liebe gehen sollte, und diese so völlig abwesend ist, spricht viele Worte: Linda wird von niemandem in den Arm genommen, getröstet und gesehen. Kein Wunder, dass sie in dieser menschlichen Entfremdung und unter dem schweren Schuldgefühl gegenüber dem Kind, das sie oft nur als Bürde begreift, keine Zuneigung mehr entdecken mag. Und so muss IF I HAD LEGS I’D KICK YOU mit der Konfrontation dieser Schuld enden – auch wenn die Schlussszene offenlässt, wie diese aussehen kann, und ob es eine Chance gibt, aus dem Ganzen wieder heil rauszukommen.
Termine bei der 75. Berlinale
Mittwoch, 19.2., 13:00 Uhr, HKW 1 – Miriam Makeba Auditorium
Samstag, 22.2., 19:00 Uhr, Uber Eats Music Hall
Sonntag, 23.2., 20:30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele