75. Berlinale: ON VOUS CROIT von Charlotte Devillers und Arnaud Dufeys


ON VOUS CROIT © Makintosh Films
ON VOUS CROIT © Makintosh Films

Vertrauensfrage – Wir glauben euch



Alice (Myriem Akheddiou) ist in Panik. Geflutet mit Adrenalin steht sie an der Straße und bittet Etienne (Ulysse Goffin) endlich aufzustehen und in die herannahende Straßenbahn einzusteigen. Doch ihr Sohn rührt sich nicht, auch nicht als die Bahn einfährt und die Mutter ihrer Tochter Lila (Adèle Pinckaers) zuruft, einzusteigen. Versteckt unter einem Hoodie sitzt der 10-Jährige versteinert auf dem Boden. Mit aller Kraft widersetzt er sich dem Weg, den er antreten soll, aus Angst. Fast droht seine Mutter zu kollabieren, so atemlos scheint sie. Verzweifelt und mit letzter Kraft versucht sie ihren Sohn in die Bahn zu zerren.

Schon die Eröffnungsszene von ON VOUS CROIT ist so beklemmend und eindringlich, dass auch der Zuschauer direkt in Atemnot gerät. Von Beginn an und ohne Vorwarnung packt der Film zu und lässt sein Publikum 78 Minuten lang nicht mehr aus seinen Klauen. Alles im Bild und im Ton schreit nach Aufruhr, Erschöpfung und Ausnahmezustand – ganz ohne ausgestellte Inszenierung oder Pathos. Das ist nicht zuletzt Pepin Struyes Kameraarbeit zu verdanken, der im Format 4:3, in nahezu 90 % des Films die Figuren im Close-Up zeigt. Jede Geste und jede noch so subtile Mimik machen so die schier unerträgliche Verzweiflung einer Mutter hier mit Händen greifbar. Es ist diese Textur, die den Zuschauer die Not der Protagonisten erlebbar macht. Im Zusammenspiel mit dem Sounddesign von Antoine Petit, Liza Thiennot & Arthur Meeus de Kemmeter schaffen Charlotte Devillers und Arnaud Dufeys es, ihrem Publikum eine emotionale und körperliche Teilhabe am Geschehen zu ermöglichen, wie sie selten im Kino erfahrbar wird.

Alice und ihre Kinder werden vom Vater – gespielt von Laurent Capelluto, der seine Rolle als unschuldigen und ratlosen Vater anlegt – vor Gericht gezwungen. Er fordert, seine Kinder wieder regelmäßig zu sehen und unterstellt seiner Ex-Frau, ihm und seiner Familie die Kinder vorzuenthalten. Doch Etienne und die 17-jährige Lila wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, mit ihrem Vater in Kontakt zu treten. Sein Vorwurf: Die Kindsmutter sei seit der Trennung mental instabil und das hätte massive Auswirkungen auf die Kinder. Alice hingegen erhebt ihrerseits schwere Vorwürfe ihrem Ex-Mann gegenüber und bittet vor Gericht darum, psychologische Hilfe für ihren Sohn beantragen zu dürfen. Eine Richterin (Natali Broods) soll nun entscheiden, wie es weitergeht.

Abgesehen von der Eingangsszene an der Straßenbahn spielt der Film ausschließlich im Gerichtsgebäude. Lange, sterile Flure, gläserne Büros und offene Wartesäle prägen die bedrückende Atmosphäre. Schutz- und Rückzugsmöglichkeiten sind kaum vorhanden. Unerwünschte Begegnungen sind damit unvermeidbar, allen Zusicherungen und getroffenen Maßnahmen zum Trotz. Es ist diese Ohnmacht dieser Figuren, ihr Ausgeliefertsein einem System gegenüber, das unvoreingenommen allen Parteien gleichermaßen gerecht werden will und muss und dabei zu oft dafür sorgt, dass Opfer Retraumatisierungen erleben. Der Zuschauer erlebt einen wahrhaft aufwühlenden und kaum zu ertragenden Gefühlsmarathon, einen Psychothriller der minimalistischsten Art, wenn er in die gleiche Lage der Richter und Anwälte versetzt wird, um das Verhalten und die Aussagen der Protagonisten zu deuten. Dem Film geht es nicht primär darum auszuerzählen, wer hier recht hat und wer was getan hat, sondern vielmehr darum, die Spuren dieser kräftezehrenden Herausforderung spürbar zu machen. Einer der wichtigen Bausteine im Film ist dabei eine 55-minütige in Echtzeit gedrehte Sequenz im Gerichtssaal, für die das Filmemacher-Duo eigens echte Anwälte (Alisa Laub, Marion de Nanteuil, Mounir Bennaoum) engagierte. Die Idee: Die Situation auch für die Schauspieler so authentisch und intensiv wie möglich zu halten, durch die eine und einzige Chance, sich in diesem einen Take vor dem Gericht zu präsentieren.

Zweifellos verfolgt das Spielfilmdebüt von Charlotte Devillers – selbst ursprünglich Gesundheitsfachangestellte mit Expertise im Jugendschutz – und Arnaud Dufeys (Invincible Summer) ein klares Ziel: Es mahnt nicht zuletzt durch eine am Schluss eingeblendete Statistik, den Opferschutz vor Gericht stärker in den Fokus zu rücken und führt dem Publikum vor Augen, wie selten Opfer tatsächlich zu ihrem Recht kommen, vor allem aufgrund der systemischen Hürden, die bereits bei der Frage beginnen, ob ihnen überhaupt geglaubt wird. Der Titel On Vous Croit (We believe you), den im Film die Richterin erlösend ausspricht, liest sich vor diesem Hintergrund wie eine Beschwörungsformel und ein an das Publikum gerichteter Appell.

Termine bei der 75. Berlinale
Mittwoch, 19.2., 21:30 Uhr, Cubix 8
Samstag, 22.2., 14:30 Uhr, Colosseum 1
Sonntag, 23.2., 12:00 Uhr, Cubix 9