ALCARRÀS – DIE LETZTE ERNTE von Carla Simón – Berlinale-Gewinner 2022
Drohender Verlust
Es ist Sommer und damit Erntezeit auf der Pfirsichplantage der Familie Solé in Alcarràs, einem kleinen Dorf in Katalonien. Die Teenie-Tochter Mariona (Xènia Roset) studiert mit ihren Freundinnen eine Tanzchoreografie ein, die kleine Iris (Ainet Jounou) und ihre Zwillingscousins spielen zwischen den Bäumen und bauen Buden, Vater Quimet (Jordi Pujol Dolcet) erschießt rigoros Hasen, die Pfirsiche fressen, und Teenie-Sohn Roger (Albert Bosch) pflegt mit Hingabe seine geheimen Marihuanapflanzen im Maisfeld. Unterstützt von Hilfsarbeitern pflückt die ganze Familie, vom Großvater (Josep Abad) über die Mutter (Anna Otin) bis zu den Enkelkindern, gemeinsam ihre Pfirsiche, um sie an Supermärkte weiterzuverkaufen. Schnell ist offensichtlich: Die Plantage der Solés ist ein eingespielter Familienbetrieb, der seit Generationen besteht und allen viel bedeutet.
Doch – und auch daran lässt der Film von Anfang an keinen Zweifel – dieses Jahr ist alles anders: Schon am Ende des Sommers droht der Familie der Verlust ihres Landes – und damit ihrer Existenzgrundlage. Vor mehreren Generationen, zu Bürgerkriegszeiten, hatten die Solés die Pinyols versteckt, um die befreundete Großgrundbesitzerfamilie vor der Ermordung zu retten. Als Dank durften sie bis heute deren Land bewirtschaften. Doch der alte Vertrag besteht nur mündlich – unterschrieben wurde nichts. Nun wittert der Sohn der Pinyols das ganz große Geld und will das Land verkaufen. Die alten Pfirsichbäume auf der Plantage sollen schon bald durch Solarpaneele ausgetauscht werden, mit denen sich schneller Geld verdienen lässt. Die Sorgen um die Zukunft führen immer wieder zu Streitigkeiten innerhalb der Familie Solé, in der sich bald mehrere konträre Lager bilden.
Regisseurin und Drehbuchautorin Carla Simón, 1986 in Barcelona geboren, wuchs als Enkelin eines Pfirsichbauern aus Alcarràs in einem katalanischen Dorf auf, was sich im Film, den sie mit ihrem Co-Autor Arnau Vilaró schrieb, spiegelt. Simóns Onkel betreiben die Plantage, auf der sie als Kind ihre Ferien verbrachte, bis heute. Die Aufnahmen der Kamerafrau Daniela Cajías und das glaubwürdig und realitätsnah wirkende Drehbuch zeugen nicht nur von großer Empathie für eine ursprüngliche Region im Wandel, sondern auch von intensiver Kenntnis des Landlebens in Katalonien, das seit Jahrhunderten durch den Pfirsichanbau geprägt ist. ALCARRÀS – DIE LETZTE ERNTE nimmt so streckenweise nahezu dokumentarischen Charakter an. Zudem drehte Simón bewusst mit Laiendarsteller:innen aus der Region, die sich mit ihrer Heimat verbunden fühlen und erstaunliches schauspielerisches Talent beweisen.
Nach dem Studium der Audiovisuellen Kommunikation in Barcelona und Kalifornien ging Carla Simón an die London Film School und nahm 2015 an Berlinale Talents teil. Für ihr autobiografisch inspiriertes Langfilmdebüt FRIDAS SOMMER (IT: SUMMER 1993), das von einem kleinen Mädchen aus Barcelona handelt, das nach dem AIDS-Tod seiner Eltern auf dem katalanischen Land bei Verwandten aufwächst, gewann sie bei der Berlinale 2017 den Großen Preis der Internationalen Jury von Generation Kplus und viele weitere internationale Preise. ALCARRÀS – DIE LETZTE ERNTE brachte der Spanierin und Katalanin 2022 den Goldenen Bären der Berlinale ein – „wegen der herausragenden Darstellungen, von den Kinderschauspieler:innen bis zu den 80-Jährigen, wegen der Fähigkeit, die Zärtlichkeit und Komödie einer Familie ebenso zu zeigen wie ihre Kämpfe, und wegen des Porträts unserer Verbindung zur Erde um uns herum und unserer Abhängigkeit von ihr“, wie es treffend in der Jurybegründung hieß.
Mit ihrer trotz mancher Längen überzeugenden, beklemmenden und berührenden Geschichte der katalanischen Familie Solé erzählt Carla Simón von einem Wandel, der sich nicht nur in der nordspanischen Provinz vollzieht, und davon, was dieser für eine Familie bedeutet. Sie zeigt die Schönheit des Landlebens, vermittelt aber auch große Wertschätzung für einen der ältesten und ursprünglichsten Berufe der Welt. Die Generationenkonflikte um Traditionen und Modernisierung, Kapitalismus und Moral, die zwischen Großvater und Vater Solé, Onkeln und Tanten und den jüngeren Familienmitgliedern aufbrechen, stehen stellvertretend für viele Familien in vielen ländlichen Regionen der Welt, die um ihre Existenz und gegen Dumpingpreise kämpfen – und die nicht selten ihre landwirtschaftlichen Traditionsbetriebe aufgeben müssen.
Carla Simón zeigt auf einfühlsame Art und in vielen leisen Momenten und kleinen Beobachtungen, wie sehr der über der gesamten Geschichte schwebende drohende Verlust der Pfirsichplantage – und damit eines Teils ihrer gemeinsamen Identität – alle Familienmitglieder auf jeweils eigene Weise belastet, vom Großvater über die Eltern und die Teenager:innen bis zur jüngsten Tochter Iris. Letztere ist es auch, der bereits in den ersten Minuten des Films ein Bagger ihr Spielauto nimmt – eine alte Ente, in der sie mit ihren Zwillingscousins gern spielt. Als Filmzuschauer:in ahnt man schnell, dass dieser Bagger nicht der einzige bleiben und dass nicht nur ein altes Auto für immer verschwinden wird. Die häufig im Bildhintergrund präsenten Fahrzeuge der Solarfirma verheißen nichts Gutes.
Stefanie Borowsky
ALCARRÀS – DIE LETZTE ERNTE, Regie: Carla Simón. Darsteller*innen: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin, Xènia Roset, Albert Bosch, Ainet Jounou, Josep Abad, Montse Oró, Carles Cabós, Berta Pipó.
Kinostart: 11. August 2022