ALICE SCHWARZER von Sabine Derflinger


Alice Schwarzer © Cristina Perincioli
Alice Schwarzer © Cristina Perincioli

Ein Leben für Frauenrechte

Sie galt lange als die deutsche Feministin: Alice Schwarzer. Als Journalistin, Autorin und Verlegerin hat die 1942 geborene Wuppertalerin Geschichte geschrieben – und tut dies bis heute. Alice Schwarzer hat eine Meinung. Nicht nur in ihrer eigenen, 1977 gegründeten Zeitschrift EMMA, sondern auch in anderen Medien äußert sie sich regelmäßig öffentlich zu gesellschaftlich relevanten Themen, scheut keine Auseinandersetzungen – und polarisiert.

Die österreichische Dokumentar- und Spielfilmregisseurin Sabine Derflinger (DIE DOHNAL), Jahrgang 1963, hat sich in ihrem Dokumentarfilm ALICE SCHWARZER nun der bekannten Feministin und ihrem jahrzehntelangen Einsatz für die Rechte der Frauen gewidmet. Bei der Diagonale – Festival des österreichischen Films erhielt Derflinger für ALICE SCHWARZER bereits den Großen Diagonale-Preis für den Besten Dokumentarfilm 2022. Aus unzähligen bekannten und weniger bekannten Archivaufnahmen, Fotos, Zeitungsartikeln, aktuellem Filmmaterial und Interviews mit Alice Schwarzer selbst und mit ihren Mitstreiter*innen setzt sich Derflingers collagenhafter Film zusammen.

Von Alice Schwarzers Kindheit bei den Großeltern in Wuppertal über ihre Zeit als junge Frau in Paris, wo sie die Frauenbewegung MLF (Mouvement de Libération des Femmes) mitbegründete und Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre kennenlernte, über die viel diskutierte STERN-Kampagne „Wir haben abgetrieben“ aus dem Jahr 1971, die Schwarzer nach französischem Vorbild initiierte und die einen Skandal nach sich zog, ihr berühmtes Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen: Frauen über sich – Beginn einer Befreiung“ (1975), ihr intensives Interview mit Romy Schneider 1976, Streitgespräche in Fernsehtalkshows u. a. mit der Autorin Esther Vilar oder SPIEGEL-Gründer und Herausgeber Rudolf Augstein, bis hin zum Redaktionsalltag bei der EMMA, ihrer umstrittenen Berichterstattung für die BILD-Zeitung im Kachelmann-Prozess, Aufenthalten im Iran und bei engen Freund*innen in Frankreich und Algerien und seltenen Einblicken in ihr Privatleben mit ihrer Ehefrau, der Fotografin Bettina Flitner, spannt Sabine Derflinger einen weiten Bogen.

Die Stärke des Films liegt in den vielfältigen Einblicken in Alice Schwarzers Biografie und damit zugleich in ihren jahrzehntelangen Kampf für die Rechte der Frauen. Aus heutiger Sicht schockieren Derflingers Einblicke in Alice Schwarzers Anfänge als Feministin in der Bundesrepublik, als sie sich in der Presse u. a. als „Hexe“, „Männerschreck“ und „Buhfrau“ betiteln lassen musste. Doch – auch das zeigt Derflinger – Schwarzer weiß sich schon als junge Frau mit Intellekt, Witz, Ironie und Schlagfertigkeit zu wehren und geht keinem Konflikt aus dem Weg.

In der Fülle der angerissenen, relevanten Debatten liegt zugleich auch eine Schwäche des Dokumentarfilms. In der gekürzten 100-minütigen Kinofassung wäre vor allem im letzten Drittel des Films eine Vertiefung sowohl der Themen selbst als auch der Gegenpositionen Schwarzers spannend und angesichts der teils heftigen Kritik an Schwarzer für eine bessere Einordnung hilfreich gewesen. Denn heute vertritt Alice Schwarzer auch unter Feminist*innen sehr umstrittene Positionen. So setzt sie sich etwa seit Langem für ein Verbot der Prostitution ein und kritisiert das Tragen des Kopftuchs scharf. Hier hätte das Aufgreifen von Gegenargumenten dem Dokumentarfilm gutgetan und einen differenzierteren Blick auf Alice Schwarzers Denken und Schaffen gewährt. Auch Schwarzers kontroverse Aussagen zur Transgeschlechtlichkeit finden im Film keine Erwähnung.

Jedoch gelingt Sabine Derflinger auch in der gekürzten Kinofassung ein umfassendes persönliches Porträt einer engagierten, streitbaren und sich unermüdlich für die Rechte der Frauen einsetzenden Feministin, das zugleich die Geschichte der Frauenbewegung in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren in ihren Grundzügen nachzeichnet. Derflinger zeigt auf, wie viel Alice Schwarzer und ihre Unterstützer*innen in den letzten Jahrzehnten erreicht haben, – aber auch, dass nach wie vor viel zu tun ist, bis die Gleichberechtigung aller Geschlechter vollzogen ist. Alice Schwarzer, die im Dezember 2022 ihren achtzigsten Geburtstag feiert, gibt ihren Kampf für die Frauen jedenfalls noch lange nicht auf.

Stefanie Borowsky

ALICE SCHWARZER, Regie: Sabine Derflinger. Mit: Alice Schwarzer, Simone de Beauvoir, Élisabeth Badinter, Jenny Erpenbeck, Jasmin Tabatabai, Margarete Mitscherlich, Anne Zelensky, Bettina Flitner, Sonja Hopf, Cathy Bernheim u. a.

Kinostart: 15. September 2022