ALL OF US STRANGERS von Andrew Haigh


Andrew Scott und Paul Mescal in ALL OF US STRANGERS © Parisa Taghizadeh, Courtesy of Searchlight Pictures. © 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.
ALL OF US STRANGERS © Parisa Taghizadeh, Courtesy of Searchlight Pictures. © 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.

Überall Schemen, wo nur festhalten

So viel Antizipation können Arthouse-Filme sonst selten verbuchen: Schon das allererste Produktionsstill des queeren Liebesdramas ALL OF US STRANGERS ging im August letzten Jahres viral. Das liegt natürlich zum Einen am Regisseur Andrew Haigh, der sich bereits mit seinem Debütfilm WEEKEND 2011 einen Namen machte, und zum Anderen – und das ist vermutlich noch relevanter – am Casting. Was ein Kniff, nicht nur den Indie-Heartthrob Paul Mescal zu besetzen, sondern noch dazu Andrew Scott, dem seit der zweiten Staffel Fleabag und seiner Rolle als „Hot Priest“ neben zig schwulen Männern auch zahllose Frauen zu Füßen liegen. So viel Erwartungsdruck!

Doch ALL OF US STRANGERS ist mehr als ein gut getimtes, wahnsinnig schön anzuschauendes Marketingprodukt. Das liegt vor allem an der seltsamen außerweltlichen Stimmung, die Andrew Haigh etwas sentimental, aber nie kitschig aus der japanischen Romanvorlage „Strangers“ von Taichi Yamada (1987) für die Jetztzeit adaptiert hat: Der einsame Mittvierziger Adam (Andrew Scott) wohnt in einem erst vor Kurzem erschlossenen Neubaublock, und er versucht sich schreibend an seine Eltern zu erinnern, die während eines Autounfalls umkamen, als er noch ein Kind war. Ein fast schon altbekanntes Narrativ – bis er in die Vorstadt in die 1980er zurückreist und dort mit seinen Eltern (Jamie Bell und Claire Foy), sehr lebendigen Geistergestalten, die Gespräche führt, die er zu deren Lebzeiten nie hat führen können. Parallel lernt er Harry (Paul Mescal) kennen, einer der wenigen Nachbarn im Haus, erst Ende 20. Und zwischen den beiden entsteht eine wunderbare, innige Liebesbeziehung, von der man sich ein bisschen wundert, wie schnell sie so perfekt gelingen kann.

Obgleich den vielen Nachtszenen und der dunkel geprägten Farbgebung des Films von Anfang an etwas leicht Unwirkliches und Beunruhigendes anhaftet, folgt man Adam gern in die behutsam erzählten Kindheits- bzw. auch Gegenwartsbewältigung, auch wenn diese mit vielen Konfrontationen gespickt ist. Hat doch der Vater immer gern den Sohn einmal umarmen wollen, aber dann doch gedacht, die Härte würde ihm gut tun. Und hat doch die Mutter immer schon geahnt, dass ihr Sohn schwul ist, und das immer verurteilt. Jamie Bell ist überragend, die Aussprache zwischen Vater und Sohn ist einer der schönsten Szenen des Films.

Am stärksten ist ALL OF US STRANGERS jedoch in seinem romantischen Kern. Paul Mescal und Andrew Scott haben eine wunderbare Chemie, die einen sofort gefangen nimmt, und die Sex- und Clubszenen erinnern in ihrer sinnlichen Intimität stark an WEEKEND (für mich immer noch der beste Liebesfilm überhaupt). Man glaubt den beiden die Offenheit, mit der sie sich nicht nur ihre großstädtische Einsamkeit spiegeln, sondern auch über die Generationenunterschiede beim Dating und Safer Sex reden – schließlich ist der eine von ihnen mit ganz anderen Berühungspunkten zu HIV aufgewachsen als der andere. Und man versteht deswegen irgendwie auch, wie sich zwei eigentlich so gänzlich Fremde so schnell so nah sein können, als Liebhaber, aber auch als Freunde, und als Familie.

„Every love story is a ghost story“. So betitelte D.T. Max vor einigen Jahren seine David Foster Wallace Biografie. Es könnte auch der Untertitel von ALL OF US STRANGERS sein, der für viele Zuschauer*innen irgendwann eine ungewohnte, und auch erschütternde Wendung nehmen wird. Aber selbst darin liegt noch Hoffnung: So lange wir die Geschichte erzählen können, erinnern wir sie noch, lebt sie noch weiter. Fingers crossed.