Berlinale: Ehrenbär für Martin Scorsese und MADE IN ENGLAND: THE FILMS OF POWELL AND PRESSBURGER von David Hinton


Goldener Ehrenbär an Martin Scorsese © Richard Hübner Berlinale 2024
Goldener Ehrenbär an Martin Scorsese © Richard Hübner Berlinale 2024

Marty, Michael and the magic of the movies

Wie nähert man sich einem Meister seines Fachs? Als Martin Scorsese vor wenigen Tagen den Goldenen Ehrenbären der 74. Berlinale für sein Lebenswerk erhielt, waren in der regionalen und überregionalen Presse Artikel und Fotostrecken zu einer Karriere zu finden – die sich nun schon seit fünf Jahrzehnten über sagenhafte Höhen und auch einige wenige Tiefen erstreckt – denen vor allem Eines gemein war: sie alle konnten dem erstaunlichen Œuvre des Meisters und der begeisternden Faszination, die von seiner Persönlichkeit ausgeht, nur bedingt gerecht werden. Der Autor dieses Artikels hat es sich daher auch gar nicht vorgenommen, das „Mysterium Scorsese“ (Scorsese über Scorsese) in seiner ganzen Tiefe auszuleuchten, zu deuten oder gar zu erklären. Es gibt dazu einschlägige Literatur und der beste Weg, Scorsese kennen zu lernen oder zu verstehen, ist eh, sich seine Filme anzuschauen, sie zu studieren. Immer und immer wieder.

Wenn Scorsese sich aber zu seiner Vergangenheit äußert, über seine Kindheit und Jugend spricht und über die Motivation, Filme zu machen, die ihn im Laufe der Jahre zu einem der wichtigsten, einflussreichsten und in der ganzen Welt geschätzten Künstler aufsteigen ließen (Letzteres ist wohl weniger motiviert – es hat sich vielmehr aus der Kraft seiner Arbeiten ergeben), lohnt es sich immer zuzuhören. Und sei es nur aus purer Freude am unbändigen Erzählschwall, mit dem Scorsese seine Zuhörer in atemberaubendem Tempo mit Geschichten, Anekdoten und Analysen füttert. Der Mann hat etwas mitzuteilen und er tut es gern.

Geboren 1942 in einen italoamerikanischen, katholischen Haushalt in Queens, New York, übersiedelte die Familie bald nach Little Italy auf Manhattan, wo der junge Martin auf ein Ensemble an Typen und Gestalten traf, die später in fiktionalisierter Form die scorseseschen Gangsterfilmwelten bevölkern sollten. Als streng gläubiger junger Mann, strebte Scorsese zunächst das Priesteramt an, bevor er sich zum Segen des amerikanischen Kinos doch lieber entschloss, seiner anderen Leidenschaft zu folgen. Und die war seit frühester Jugend das Kino, bzw. der Film.

Denn den Kosmos Kino erschloss sich Marty zunächst über das Fernsehen, wo er die Filme meist in mieser Qualität, geschnitten und von der Werbung zerstückelt, kennen lernte. Eine Asthmaerkrankung verhinderte, dass sich Scorsese den lokalen Gangs anschloss und eine kriminelle Laufbahn einschlug. Seine besten Freunde wurden stattdessen die Helden der B-Movies, die damals zuhauf und in ständiger Wiederholung über die Mattscheibe flimmerten, da die großen Studios sich weigerten, ihre A-Ware an die small screens zu verhökern.

Dort liefen auch bevorzugt italienische, französische, britische und – ganz selten – asiatische Produktionen, die Marty lehrten, über den Tellerrand des amerikanischen Kinos zu schauen und seine Augen und sein Herz den künstlerischen und erzählerischen Ideen und Entwürfen internationaler Filmemacher zu öffnen. Eine Liebe zum Kino in all seinen Formen, Farben und Verästelungen entstand, die Scorseses Denken bis zum heutigen Tag beherrscht.

Man muss ihm bei einer Pressekonferenz nur ein Stichwort geben und der Meister beginnt mit einem Monolog, der ihn von den frühen Tagen vor dem kleinen Fernseher über PATHER PANCHALI (Satyajit Ray, 1955) – und die Entdeckung, dass die Menschen, die in diesem Film auftreten, zwar ganz anders (nämlich indisch) aussehen, sich ansonsten aber (in ihren Problemen, Träumen und Wünschen) in nichts von „uns“ (also dem kleinen italomerikanischen Haushalt in New York) unterscheiden – zu den Meistern des poetischen Realismus in Frankreich (etwa Marcel Carné oder René Clair) und des italienischen Neorealismo der Nachkriegszeit bringt und in ein Plädoyer für den Erhalt und die Restaurierung der noch verfügbaren Werke der Stummfilmära mündet, nicht ohne eine Absolution an das junge und jüngste Publikum anzuschließen, das sich, statt Filme im Kino anzuschauen, lieber mit TikTok und Instagram beschäftigt. Das Kino, da ist sich Scorsese sicher, lebt weiter. Es finde heute nur in verschiedenen Medien statt.

In jenen jungen Jahren, die Scorsese asthmageplagt in den sicheren vier Wänden der elterlichen Wohnung und aus Mangel an Alternativen – die (älteren) Scorseses waren keine großen Leser – vor dem Fernseher verbrachte, hatten es ihm zwei britische Filmemacher besonders angetan, deren Werke noch heute die ewigen Bestenlisten bereichern, deren Namen aber außerhalb cinephiler Kreise längst nicht mehr den verheißungsvollen Klang haben, der ihnen eigentlich noch immer zusteht.

MADE IN ENGLAND: THE FILMS OF POWELL AND PRESSBURGER © 2024 P & P Film Limited & British Broadcasting Corporation. All Rights Reserved
MADE IN ENGLAND: THE FILMS OF POWELL AND PRESSBURGER © 2024 P & P Film Limited & British Broadcasting Corporation. All Rights Reserved

Michael Powell und Emeric Pressburger waren in den 1940er Jahren zur Speerspitze des britischen Kinos aufgestiegen, bewundert auch in Hollywood, wo man erstaunt feststellte, dass es selbst unter widrigsten Umständen – England befand sich zu Beginn der Karriere Powells und Pressburgers noch mitten im Krieg – möglich war, Filme von einer Qualität zu produzieren, wie sie selbst in Hollywood unerhört schien.

Kennengelernt hatten sich Powell, der schon einige Filme inszeniert hatte und u.a. 1940 an der Alexander Korda Produktion THE THIEF OF BAGDAD mitgewirkt hatte, und Pressburger, ein ungarischer Drehbuchautor, der bis zu seiner Flucht nach England in der deutschen Filmindustrie gearbeitet hatte, während der Dreharbeiten zu 49TH PARALLEL, einem Propagandafilm über eine deutsche U-Boot-Besatzung, die an der kanadischen Küste strandet.

Laut Powell war es Liebe auf den ersten Blick. Eine künstlerische Gemeinschaft war entstanden, bei der sich beide, der Autor und der Regisseur, blind aufeinander verlassen konnten und die fünfzehn Jahre wären sollte. Selbst nachdem sich ihre künstlerischen Wege nach ILL MET BY MOONLIGHT (1957) endgültig trennten, blieben sich Powell und Pressburger lebenslang in gegenseitigem Respekt und Freundschaft verbunden.

In ihrer gemeinsamen Zeit aber schufen sie, manchmal in Jahresfrist, ein Meisterwerk nach dem anderen. Erwähnt seien hier nur die vom Autor besonders geschätzten THE LIFE AND DEATH OF COLONEL BLIMP (1943), A CANTERBURY TALE (1944), A MATTER OF LIFE AND DEATH (1946), BLACK NARCISSUS (1947), THE RED SHOES (1948) und THE TALES OF HOFFMANN (1951). Gemein sind ihnen überraschende und zum Teil fantastische Storyentwürfe und ungewöhnliche Charakterentwicklungen. Abgesehen von A CANTERBURY TALE glänzt jeder dieser Filme zudem durch eine außerordentliche Farbdramaturgie. Nie zuvor war Technicolor derart effektiv und narrativ eingesetzt worden.

Scorsese hatte sich schon früh für die Filme Powells und Pressburgers begeistert. Vor allem THE RED SHOES mit seiner zentralen 19minütigen Ballettsequenz hatte es ihm angetan. Bis heute bezeichnet er dieses vielleicht wichtigste Powell & Pressburger-Werk als seinen persönlichen Lieblingsfilm. Auch seine Freunde an der University of California, Francis Ford Coppola, Steven Spielberg und George Lucas, teilten diese Leidenschaft.

In David Hintons Dokumentarfilm MADE IN ENGLAND: THE FILMS OF POWELL AND PRESSBURGER (Berlinale Special) berichtet Scorsese über den Einfluss, den die verehrten Briten auf sein eigenes Schaffen ausübten. Da sind zum Beispiel die in grelles Rot getauchten Szenen, die sich bei Powell & Pressburger wie auch bei Scorsese finden. Einzelne Sequenzen seiner Filme hat Scorsese als Hommage an Powell & Pressburger inszeniert, andere sind zumindest stark von den Briten inspiriert.

MADE IN ENGLAND ist aber nicht eine bloße Werkschau. Scorsese berichtet nicht nur über die Filme Powells & Pressburgers, analysiert sie und setzt sie ins Verhältnis zu seinen eigenen Arbeiten. Der große Erzähler hat noch ein weiteres Ass im Ärmel, einen persönlichen Bezug zu Michael Powell, die MADE IN ENGLAND über die spannende filmhistorische Reflexion hinaus auf eine emotionale Ebene heben, die einem Spielfilm Powells & Pressburgers aber auch Scorseses würdig wäre. Wer sich hier an das Verhältnis François Truffauts zu seinem Abgott Alfred Hitchcock erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch.

Und so erleben wir hier einen Meister seines Fachs, einen außergewöhnlich produktiven Künstler, der in seinen stillen Stunden im abgedunkelten Kinosaal wieder zu dem wird, der er schon vor siebzig Jahren war: zum Fanboy, der nun liebevoll den Göttern seiner Jugend huldigt. Auf seine Weise hat David Hinton einen Weg gefunden, sich nicht nur einem, sondern gleich drei Meistern zu nähern.

Thomas Heil

MADE IN ENGLAND: THE FILMS OF POWELL AND PRESSBURGER, Regie: David Hinton, Erzähler: Martin Scorsese