„Dictado“ von Antonio Chavarrías
Die Angst vor dem Kind
Mario steht wie benommen im Badezimmer, während seine Tochter Julia in der Badewanne sitzt. Ängstlich schaut das Mädchen zu Mario auf, während der sich mitsamt seiner Hose zur Tochter in die Badewanne setzt. Ein kurzes Knacken, Marios Gesicht verharrt, die Kamera fährt zurück und zeigt ein Gemisch aus Blut und Wasser, das aus der Wanne schwappt. Mario war nur Stunden zuvor in der Schule seines ehemaligen Freundes Daniel aufgetaucht und hatte ihm mit wirrem Gesichtsausdruck versucht zu erklären, dass seine Tochter Julia die Wiedergeburt seiner verstorbenen Schwester Clara ist. Im Kindesalter waren Mario und Daniel beste Freunde, ihre Eltern hätten fast geheiratet. Doch nach dem Tod Claras, verschuldet von den beiden Freunden, trennten sich die Wege der Familien. Nach der unerwarteten Wiederbegegnung zwischen Mario und Daniel, kommen die Familien nun doch noch zusammen. Denn nachdem Mario sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, nehmen Daniel und seine Frau Laura Julia bei sich auf. Während Laura, die selbst kinderlos ist, das Mädchen vom ersten Moment an liebt, fürchtet sich Daniel zunehmend vor Julia.
Lange bleibt es unklar, auf welche narrative Form sich der spanische Regisseur Antonio Chavarrías einlässt. Ist „Dictado“ („Childish Games„) eine klassische Geistergeschichte, die auf übersinnlichen Elemente fokussiert, oder ein geschickt inszenierter Psychothriller? Die übersinnlichen Elemente des Films tragen „Dictado“ über weite Strecken und machen aus dem Film ein durchaus spannungsvolles Erlebnis, in dessen Zentrum die kleine Julia steht.
Kinder sind unschuldig. Rein und in einer gewissen Form ein unbeschriebenes Blatt. Sie stehen außerhalb moralischer Diktate. Sie sind Schutzbefohlene, denen weder Bösartigkeit noch ein berechnender Wille zugeschrieben werden. Was aber ist, wenn ein Kind wie Julia offen zwiespältig auf die Erwachsenenwelt trifft, diese mit ihrer undurchdringlichen Aura einschüchtert und in ihrer Existenz bedroht? Aus diesem Spannungsverhältnis entwickelt Antonio Chavarrias Film einen enormen Sog. Denn die Unselbstständigkeit eines Kindes, die in „Dictado“ zu einer berechnenden Handlungsweise umgedeutet wird, mündet in einem Paradoxon: Weiß ist eben nicht schwarz. Rein ist nicht schmutzig. Unschuldig ist nicht schuldig. Die Folge ist eine diffuse Angst vor dem Unbekannten, vor Verhältnissen, die nicht abschätzbar sind.
Dennoch erfindet „Dictado“ kein Genre neu und verläßt sich weitestgehend auf bekannte Motive und Konventionen. Wo die Handlung wie auch Chavarrias Handwerk am Beginn des Film durchaus interessante Brüche zeigen, rutschen beide im Verlauf ins Mittelmaß ab. Was bleibt, sind die undurchdringlich klaren Augen eines in der Welt zerrissenes Kindes. Ein beunruhigendes Erlebnis.
Martin Daßinnies
Berlinale-Termine: Mo 13.02., 21.30 Uhr, Passage