MILLA MEETS MOSES (BABYTEETH) von Shannon Murphy


MILLA MEETS MOSES von Shannon Murphy © Salzgeber

Befreiungstanz

Milla tanzt, als wenn es kein Morgen gäbe. Denn vielleicht wird es für Milla (Eliza Scanlen) bald keinen Morgen mehr geben. Die 16-jährige Milla ist krebskrank und Hals über Kopf verliebt. So wie sie tanzt, immer wieder in Shannon Murphys MILLA MEETS MOSES, wütend hopsend, mit geschlossenen Augen, vertieft im Rhythmus, sanft um die eigene Achse schmiegend, so befreit sie sich von der sie einhüllenden Watteglocke ihrer Eltern. Mit Samthandschuhen versuchen diese die Krankheit ihrer Tochter mit viel quietschbuntem Leben und extremer Fürsorglichkeit zu heilen.

In MILLA MEETS MOSES werden Momente der Normalität forcierend zelebriert. Es wird sich mit melancholischer Dringlichkeit an sie geklammert, denn es könnte stets das letzte Mal sein. Die australische Film- und Fernsehregisseurin Murphy kreiert mit ihrem Spielfilmdebüt, das 2019 auf den Filmfestspielen von Venedig im Rennen um den Goldenen Löwen lief, einen aufrüttelnden Befreiungstanz. Anhand komplexer Figuren und mit viel Feingefühl arbeitet sich Murphy – basierend auf einem Theaterstück von Rita Kalnejais – vorrangig nicht am Tod ab, sondern thematisiert normative Familiendynamiken und Millas Suche nach Identität. Die Narration lässt klassische vielfach gezeigte Szenen von Krebsdramen aus: Der*die Zuschauer*in muss sich nicht von Arztdiagnosen zu Krankenbett zum Tropf hangeln. Der Krebs ist da, doch wir sehen ihn nicht. Wir spüren ihn, das reicht.

Vielmehr sehen wir Milla im Kontext ihrer Familie und das andauernd. Die Schule kommt als Ort vor, doch ist nur Nebenschauplatz. Dreh- und Angelpunkt der Tragikomödie ist das Haus der Eltern irgendwo in der australischen Peripherie mit Millas Vater Henry (Ben Mendelsohn) und Mutter Anna (Essie Davis) und den sich darin anstauenden Konflikten.

Auf dem Weg zu Schule am Bahnhof trifft Milla Moses. Auf irgendeinem Trip umgarnt Moses Milla zunächst mit rot umrandeten Augen, pumpt sie dann um Geld an, weil er aus seiner Wohnung geflogen ist und haut sie dann buchstäblich um. Kurze Zeit später ist Millas langes Haar abgeschnitten und wir sind mit dabei, wie Milla ihren Eltern Moses beim Abendessen vorstellt. Anna fasst sich dabei absurd-komisch benommen ins taube Gesicht und hält Moses gleichzeitig die Pistole auf die Brust. Als potentieller Eindringling in die Familienidylle muss Moses sich erst beweisen. Als der biertrinkende, bis in Gesicht tätowierte Moses Milla dann zu nahe kommt, liegen Annas Nerven blank. Das Dinner wird ein Fiasko.

Mit Anna und Henry konstruiert Murphy eine Parallele zu Moses, der sich als gelegentlicher Drogendealer und Schulabbrecher entpuppt. Die ehemalige Konzertpianistin Anna wird dagegen von ihrem Mann, der Psychotherapeut ist, mit legalen Pillen versorgt. Zwei von den blauen hier, eine rote dort. Zwischen Tür und Angel werden Anna andauernd beiläufig Tablettendosen zugeworfen, mal vor dem Sex, mal am Frühstückstisch, mal schiebt sie sich selbst im Morgenmantel einen bunten Tablettencocktail in den Mund. Die bodenlose Trauer über die Krankheit ihrer Tochter zieht Anna, aber auch Henry in die Medikamentensucht, ähnlich wie Moses, der dem nächsten Kick stets nicht abgeneigt ist.

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