„Multiple Schicksale“ von Jann Kessler


Zurückhaltend und sensibel setzt Kessler seine Gegenüber ins Bild. Ihre Schilderungen ergreifen den Zuschauer und präsentieren ihm gleichzeitig bewundernswerte, starke Persönlichkeiten, die nicht ohne einen gewissen Zynismus von ihrem Schicksal sprechen. Dem Mitte-40-jährigen Familienvater und der 30-jährigen Frau würde man es nicht anmerken, dass sie an MS leiden, treten sie doch sehr selbstbewusst und ausgeglichen auf. Erst ihre Berichte über die Schwierigkeiten im Berufsleben oder im Alltag mit den eigenen Kindern, in denen es ihnen durch die Krankheit an Energie und Belastbarkeit fehlt, machen ihr Leiden deutlich.

Mit größeren körperlichen Einschränkungen müssen beispielsweise ein 18-jähriges Mädchen, eine ältere Frau und ein älterer Mann umgehen. Die beiden letzteren teilen ihre Gedanken an Selbstmord und stellen die Frage „welches Leben noch lebenswert“ sei. Sie machen zugleich klar, dass das Thema als gesellschaftliches Tabu gilt. Damit bricht der Film, indem er den einen Mann in seiner Entscheidung zum Freitod bis zuletzt begleitet. In der Schweiz existiert seit Jahrzehnten ein Verein für Sterbehilfe, „Exit“, der entschlossenen Menschen bei diesem Schritt unterstützt.

Mit dieser Szene wird es der Film schwer haben, in anderen Ländern, zum Beispiel in Italien, wo Euthanasie unter Strafe steht, veröffentlicht zu werden. Dass diese Szene so natürlich und uninszeniert wirkt, liegt an der allgemeinen Haltung des Autors. Er sucht nicht den Effekt, bemüht sich, zu dokumentieren und entblößt den Einzelnen nie. Im Wesentlichen handelt es sich bei „Multiple Schicksale“ also um eine gelungene Dokumentation mit berührend-persönlicher Perspektive. Kessler zeigt in seinem Film trotz seines jungen Alters (Jahrgang 1995) bereits eine erstaunliche menschliche Reife und bemerkenswerte filminszenatorische Fertigkeiten. Er reiht sich mit seinem Werk in die bekannterweise starke Schweizer Tradition des Dokumentarfilms ein.

Teresa Vena

Multiple Schicksale – Vom Kampf um den eigenen Körper„, Regie: Jann Kessler, Kinostart: 15. September 2016

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