TOXIC von Saulė Bliuvaitė

Weibliche Körper als Ware
In einem tristen Industrieort in Litauen lebt die 13-jährige Marija (Vesta Matulytė) seit Kurzem bei ihrer Großmutter. Marijas Mutter ist ins Ausland gegangen, hat einen neuen Freund und scheint kein großes Interesse mehr an ihrer Tochter zu haben. Vielleicht holt sie Marija in sechs Monaten ab, vielleicht aber auch nicht. In der Schule machen sich die anderen Mädchen über die eher introvertierte Marija lustig und verspotten sie als „Hinkebein“, weil sie ein Bein nachzieht. Die forsche Kristina (Ieva Rupeikaitė), die bei ihrem vor allem mit seiner Freundin Laima (Jekaterina Makarova) beschäftigten Vater (Giedrius Savickas) aufwächst, nimmt Marija in der Schwimmbadumkleide die Jeans weg – und weigert sich trotz der Prügelei mit ihrer neuen Klassenkameradin auf regennasser Straße, die Hose zurückzugeben.
Eine mysteriöse Modelschule ist in dem kleinen Ort auf der Suche nach jungen Mädchen, die teure Kurse belegen und für Fotoshootings zahlen sollen, um sich auf ein großes Modelcasting vorzubereiten. Marija und Kristina versuchen dort ihr Glück – und freunden sich trotz der Anfangsschwierigkeiten mehr und mehr an. Vor allem Kristina ist bereit, alles zu tun, um sich durch das Modeln den Traum von einem besseren Leben im Ausland zu erfüllen: Sie wirft ihr Essen entweder heimlich aus dem Fenster oder übergibt sich nach den Mahlzeiten, isst Watte – und besorgt sich sogar Bandwurm-Eier aus dem Darknet, um damit Gewicht zu verlieren und den Ansprüchen der Modelagentin zu genügen, die den Teenagerinnen übergriffig und unerbittlich mit dem Maßband zu Leibe rückt. Nicht zuletzt aus Angst um ihre noch frische und auf wackligen Beinen stehende Freundschaft zu Kristina gerät auch die große und auffallend hübsche Marija immer mehr in die Fänge der sektenartigen Modelschule, deren dunkle Seite die beiden schon bald kennenlernen. Für die zwielichtigen Modelagent*innen sind die Körper der jungen Mädchen nichts als Ware, die sie im kühlen Neonlicht auf Kommando und im Gleichschritt in Szene setzen müssen.
Als düsteres Coming-of-Age-Drama kommt das vielfach – u. a. mit dem Goldenen Leoparden 2024 in Locarno – preisgekrönte Spielfilmdebüt der 1994 geborenen Regisseurin und Drehbuchautorin Saulė Bliuvaitė daher, die selbst in einem durch Industrie und Verfall geprägten Ort in Litauen ihre Kindheit und Jugend verbrachte und als Teenagerin miterlebte, wie betrügerische Modelagenturen in ihrer Gegend blasse, dünne Mädchen suchten – und ihnen falsche Hoffnungen machten. Ihren beiden 13-jährigen Protagonistinnen, die in dysfunktionalen Familien aufwachsen und davon träumen, der allgegenwärtigen Tristesse und Perspektivlosigkeit ihres Heimatortes durch das Modeln entkommen zu können und mit etwas Glück nach Japan, Korea oder nach Paris geschickt zu werden, mutet sie einiges zu. So lässt sich Kristina in einer schwer zu ertragenden Szene auf einer öffentlichen Toilette ein Zungenpiercing stechen, leidet unter starken durch den Bandwurm verursachten Schmerzen – und lässt sich in der Hoffnung auf ein bisschen Geld darauf ein, einen alten Mann zuhause zu „massieren“. Wie jung und kindlich die essgestörte Kristina in Wahrheit noch ist, wird etwa in einer Szene deutlich, in der sie stark geschminkt und mit Zigarette im Mund einer Barbiepuppe die Haare kämmt.
Nicht nur die familiären Verhältnisse, die Freundschaften, die fragwürdigen Schönheitsideale oder die vermeintlichen Modelagent*innen erweisen sich als toxisch. Die Mädchen wachsen in einem zutiefst patriarchalen, misogynen Umfeld auf, in dem sexuelle Belästigung zum Alltag gehört und Männer jeglichen Alters sie zu Objekten degradieren und davon überzeugt sind, über sie verfügen zu dürfen. Kameramann Vytautas Katkus fängt die Kälte und Härte des verfallenden postsowjetischen Industrieortes und der damit verwobenen Desillusion in blaustichigen, ästhetisch und teils surreal-unwirklich anmutenden Bildern ein, die im Gedächtnis bleiben. Immer wieder sind verlassene Fabrikgebäude, übermächtig wirkende Kühltürme und Hochspannungsmasten oder öde Straßenzüge im Hintergrund zu sehen – die Mädchen können ihrer trostlosen Umgebung nicht entkommen, was bedrohlich wirkende elektronische Klänge des Musikers Gediminas Jakubka gelegentlich akustisch unterstreichen. Mit TOXIC ist Saulė Bliuvaitė ein eindrückliches und – auch dank der beiden herausragenden jungen Hauptdarstellerinnen – überzeugend inszeniertes Debüt gelungen, in dem sie ein Schlaglicht auf eine bedrückende und erschütternde Lebensrealität in Osteuropa wirft, der vor allem junge Mädchen schutzlos ausgesetzt sind.
Stefanie Borowsky
TOXIC, Regie: Saulė Bliuvaitė; Darsteller*innen: Vesta Matulytė, Ieva Rupeikaitė, Egle Gabrėnaitė, Giedrius Savickas, Jekaterina Makarova, Aleksandra Krivulina. Kinostart: 24. April 2025.