VIENNA CALLING von Philipp Jedicke


Das Rap-Duo EsRap in VIENNA CALLING © mindjazz pictures
Das Rap-Duo EsRap in VIENNA CALLING © mindjazz pictures

Granteln fürs ultimative Wohlfühlen

Ein Schelm, wer beim Titel an BERLN CALLING von Hannes Stöhr denkt, dem gehypten Kalkbrenner-Film mit seinen elektronischen Ohrwurm-Qualitäten. Denn natürlich bezieht sich der deutsche Regisseur und Journalist Philipp Jedicke mit seiner neuen Musikdoku vielmehr auf den gleichnamigen Falco-Song von 1985, ein weltweiter Chart-Hit, ein nostalgischer Wien-Abgesang.

Jedicke nutzt die Referenz, um dem spezifischen Musikdoku-Genre der Hommage-Doku zu frönen. Im Fokus: Die Wiener Musikszene, die gern mal keine zehn Meter hinter der Grenze wegen ihres spezifischen Grants – und manchmal eben auch wegen ihres ironisch-unironischen Snobismus – romantisch verklärt wird. Als Protagonist*innen hat er sich dabei eben nicht die großen Exporte aufgefahren, an die man so in Deutschland gleich denken würde. Wanda fehlt, ebenso Bilderbuch (beide hatten wohl schlicht keine Zeit), und auch ein vor inzwischen ausschließlich ausverkauften Hallen spielender Bibiza, mit seinen tanzbaren Dancefloor-Koks-Hymnen, wird augespart.

Stattdessen nimmt sich Jedicke eine Szene vor, die er ein bisschen als „musikalischen Underground“ inszeniert. Dabei sind tatsächlich spannende Newcomer*innen wie das rappende Geschwisterduo EsRap („Du hast Polizei, ich habe Brüder dabei“), die non-binäre, queerfeministische rappende Person Kerosin95 oder der ewig grinsende Gutlauninger im schimmernden Schlager-Anzug, aber auch Lydia Haider, Voodoo Jürgens und sogar Der Nino aus Wien (die streng genommen ja aber auch schon zu den etablierten Indie-Artists zählen). Sie erzählen ein bisschen episodenhaft aus ihrem künstlerischen Alltag im Beisl oder Kaffeehaus oder beim Organisieren von geheimen Raves am Donauufer sowie Special Musik-Events in Peepshow-Etablissements. Außerdem bekommt quasi jede*r von ihnen ein Art Musikvideo im Film: EsRap führen beispielsweise rassistische Stereotype vor, in dem sie mit Ziegen in einem Edelhotel absteigen, und der Nino aus Wien darf mit seinem Edel-Starfrisör Erich Joham – der bereits Falco frisiert hat – eine Art Modern-Loneliness-Persiflage hinlegen. Der Frisör ist eine der vielen „Nebenkulissen“, die ein bisschen das Wiener Stadtfeeling mit einfangen sollen (und natürlich sitzt auch Stefanie Sargnagel kurz da und liest eine ihrer treffend-beißenen Wien-Beschreibungen). Als Erich Joham dem Nino aus Wien mit dem elektrischen Rasierer ein bisschen ungelenk über die Haarlocke fährt und dieser Skepsis äußert, ob das auch ein guter Haarschnitt würde, sagt sein Starfrisör mit der lapidaren Leichtigkeit eines längst Etablierten: „Ach, das sind nur Haare, das wächst ja nach“. Es ist einer der vielen sehr sehr lustigen Momente des Films.

Natalie Ofenböck und der Nino aus Wien in VIENNA CALLING © mindjazz pictures
Natalie Ofenböck und Der Nino aus Wien in VIENNA CALLING © mindjazz pictures

Wer sich von dieser Doku auch ein bisschen kritische Distanz gewünscht hat, wird enttäuscht werden. Jedicke interessiert sich nicht wirklich für mögliche Widersprüche zwischen Underground und Mainstream, für die Dekonstruktion der deutschen Wien-Romantisierung oder schlicht: für die nicht so sympathischen Seiten seiner Protagonist*innen, mit denen man sofort ein Bier trinken mag oder am besten gleich zehn. Letzters gilt vor allem für Der Nino aus Wien, der auch mal nachdenklich-philosophisch wird: „Was soll ich in Italien? Da versteht ja keiner meine Texte“.

Für alle Wien- und vor allem Wiener Musikfans bietet der Film jedoch äußerst zugewandte, kurzweilige Unterhaltung – nebst einiger Neuentdeckungen und der Erkenntnis, dass Voodoo Jürgens nicht nur unsagbar fantastische Songwriting-Skills besitzt, sondern, oh Schock!, sogar ganz gut malen kann. Ihm gebührt / gehört auch das letzte Wort:

„Heite sam ma freindlich waun
Uns wos ned passt
Und zu denen ma freindlich san
Sand wie a Gfrasst
Heit schaut des Gaunze aunders aus
Weil heite grob ma Tote aus

Jo heite grob ma Tote aus
Jo heite grob ma Tote aus
Jo heite grob ma Tote aus
Heite geh ma friara z’Haus“

(„Heite grob ma Tote aus“, 2016, vom Album Ansa Woar)

Marie Ketzscher