Festivalbericht 2011 – Pop ist betrügende Geschichte


Filmszene: "Upside Down: The Creation Records Story"

Filmszene: "Upside Down: The Creation Records Story"

Pop ist betrügende Geschichte

Seit über sechs Dekaden bevölkern sie unsere Gehörgänge, zieren unsere Wände, stellen unsere Jugenderinnerungen und prägen uns für das gesamte Leben – Rockmusiker. Sie sagen der Gesellschaft die Wahrheit auf den Kopf zu, indem sie uns vorführen, was ihnen unausgesprochen zu Füßen liegt. Schließlich treiben sie es auf die Spitze: Ausbeutung, Konkurrenz, Glanz und Macht gewonnen anscheinend ohne Arbeit, zerronnen im abrupten Fall. Was sie so enthüllen, verhüllt der Musikbetrieb durch schreiende Farbe, Tonnen von Photos, den immer gleichen Interviews und Panoptikumsmagie. Indem dieser Betrieb das jeweils vorherrschende Modell der Gesellschaft als Lustbarkeit ausstellt, ködert er uns, die Wirklichkeit, die er verzaubert, als eine Vorgespiegelte zu vergessen. Seine Aufregungen kühlen uns aus.

Dagegen stellte das Festival In Edit, das in diesem Jahr zum ersten Mal in Berlin stattfand, gleich einen Reigen erstklassiger Filme zur Verfügung, die nicht nur von Herzblut und Akribie zeugten, sondern sich in erster Linie darum bemühten, hinter den Postergöttern den Menschen zu entdecken. Ein fünf Tage andauerndes Festival bedeutet für die Veranstalter in erster Linie eines – Stress. Der Stress verkleinert sich nicht gerade, wenn ein Filmfestival aus logistischen Gründen auf zwei Austragungsorte verteilt wird. Wenn diese zwei Austragungsorte dazu noch mehrere Kieze und zwei bis drei Stadtteile auseinanderliegen, wird es schwer den phlegmatischen Berliner bei Laune zu halten. So gestaltete sich das Publikum in diesen zwei Kinos, dem .HBC und Kino Moviemento, doch recht unterschiedlich. Dazu später mehr. Machen wir den Anfang beim Anfang und gehen dann bis zum Ende.

Glasgow

Ein Ausbund ausgelassenen Schnittes ist Danny O´ConnorsUpside Down: The Creation Records Story„. Es geht um den Aufstieg und Fall von Creation Records, auf dem sich die ganzen End-Achtziger bis Mitte-Neunziger-Heroen des britischen Rock versammelten. Das waren Jesus and Mary Chain, Oasis, Primal Scream und natürlich My Bloody Valentine. Es war der Zeitpunkt, wo Indiekultur zum Mainstream wurde. Diese Nonstopparty rund um den Labelgründer Alan Mcgee, dessen schon fast unheimliche Gabe neue Bands innerhalb kürzester Zeit an die Spitze der Charts zu pushen, war 1999 auf einmal zu Ende.

Filmszene: "Upside Down: The Creation Records Story"

Filmszene: "Upside Down: The Creation Records Story"

Mr. Mcgee wuchs in Glasgow auf. Das erklärte unter anderem seinen süffigen Akzent, den er am 5. April vor und nach dem Film mit seinem hochinteressierten Publikum teilte. 1983 landete er in London, wo er Creation Records, eine Reminiszenz an die Band the Creation, aus der Taufe hob. Um seine überteuerte Bruchbude bezahlen zu können, arbeitete er im Schichtdienst der Eisenbahngesellschaft British Rail und begann, die Band Jesus and Mary Chain zu managen. Das war der erste Streich in einer ganzen Serie geglückter Managementoperationen, doch wohl niemand hätte mit dem Erfolg einer Band wie Oasis gerechnet. Dieser Boom kam unerwartet und war so ohne Beispiel. Musik mit Sechziger-Allüren galt als out und eine totgespielte Band wie die Beatles schien nur noch Platz im Museum zu haben. Doch schon bald stellte sich heraus, dass „Morning Glory“ zum meistverkauften britischen Album der 1990er werden sollte. Vom NME erhielt Mcgee sogar den „Godlike Genius“-Award verliehen. Die Stärke dieser Dokumentation, die in 100 Minuten die durchaus bewegten 16 Jahre Labelgeschichte aufzeigen, liegt in der Verwendung des Archivmaterials, das gelungene Einblicke in die nicht enden wollenden Parties im Labelbüro liefert.

Sahnehäubchen sind die Interviews mit Noel Gallagher und Bobby Gillespie von Primal Scream. Die Sequenz, in der man einen ausgeglichenen Mcgee in Manchester findet, der gerade zu Acid House seine Hüften schwingt und die Frage von Factory-Boss Tony Wilson, was er eigentlich hier mache, mit einem lakonischen: „A better class of drugs, Tony.“ beantwortet, lies nicht wenige lachend im Kinosaal zurück. Diese Gemeinsamkeit teilten wohl alle Creation-Artists mit McGee. Sie waren wichtig – und wussten darum, aber nahmen sich abseits der Bühne nicht allzu ernst. Das merkte man entgültig, als der Sänger und Gitarrist der Band Ride, Mark Gardener, zusammen mit Alan McGee nach Ende des Filmes in der Launch des .HBC die Plattenteller bespielte. Das Set war gut, witzig und spiegelte wie der Film ein bedeutendes Stück jüngerer Musikgeschichte wieder.

Ecke Medlock Street/Mancunian Way

Bleibt man bei den Plattentellern, bleibt man auf der Insel. Allerdings wechselte man als Zuschauer das Kino und den Stadtteil. So landete man in Kreuzberg im Moviemento und vollzog einen Abstecher nach Blackburn. Blackburn, das ist eine Stadt im Nordwesten Englands mit etwas mehr als 100.000 Einwohnern. Die Stadt hat eine sehr fußballinteressierte Bevölkerung und seit immerhin 1997 ist man an das britische Autobahnnetz angeschlossen. Man könnte beinahe denken, es sei langweilig. Doch was Liverpool für die britische Rockmusik war, bedeutete Blackburn für die aufstrebende Ravekultur Ende der 1980er.

Filmszene: "High On Hope"

Filmszene: "High On Hope"

Piers SandersonsHigh on Hope“ taucht in die Welt der ausgelassenen Lagerhausparties ein und erzählt dabei stringent, aber bedauerlicherweise zu konventionell. Das politische Klima Großbritanniens in den Achtziger Jahren stand im Schatten Margaret Thatchers. Diese Zeit war nicht nur durch schwere Konflikte geprägt, sondern auch durch die inhaltlichen Widersprüche des Thatcherismus: Eine autonome Zivilgesellschaft versus autoritärer Moral, marginal ausgebildetes ökologisches Denken und das gleichzeitige Hinnehmen von sozialer Ungleichheit. All das mündete in Frust und nicht selten in Gewalt. Um den ganzen ein Ventil zu geben, traten DJ´s in Erscheinung, die erst in kleinen Kellern, recht bald aber stillgelegte Lagerhäuser und noch nicht fertiggestellte Apartmentanlagen nutzten um den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes eine Artikulationsfläche anzubieten.

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