Mythos Caligari im Delphi an der Brotfabrik


Filmszene: "Das Cabinet des Dr. Caligari"

Am 29. November 1929 wurde das Delphi am Caligariplatz in Weißensee eröffnet. Es war das letzte geplante Lichtspielhaus in Berlin. In den 20er und 30er Jahren wurden hier überwiegend Stummfilme gezeigt, es überstand die Weltwirtschaftskrise und wurde schließlich 1959 wegen baulicher Mängel stillgelegt. Das Kino ist eines der letzten Überbleibsel des ehemals wichtigen Filmstandortes Weißensee. Hier entstanden einst Stummfilmklassiker wie Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ und Richard Oswalds „Anders als die Andern„.

Mit dem interdisziplinären Spektakel Somnambule – Erstes Internationales Caligari-Festival ruft die Brotfabrik vom 9. bis 19. Spetember nun ein Medien- und Kunstfestival ins Leben, das an die Blütezeit des Stummfilms und an den einstigen Standort in Berlin-Weißensee erinnert. Das Meisterwerk „Das Cabinet des Dr. Caligari„, entstanden 1919/20, ist Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit ästhetischen, sozialen und politischen Hintergründen sowie den künstlerischen Auswirkungen des Films, die bis in die Gegenwart reichen. Remakes, Adaptionen, Performances und Live-Vertonungen spiegeln bis heute die Sprengkraft seiner expressionistischen Bildsprache wider.

Den Auftakt der ersten Somnambule wird die Live-Vertonung des Original-Caligari (Filmausschnitt am Ende des Artikels) durch den französischen Avantgarde-Musiker Thierry Zaboitzeff (Ex-Art Zoyd) am 9. September im ehemaligen Stummfilmkino Delphi bilden. Conny Bauer, Meister der melodischen Improvisation auf der Posaune, vertont den Nachfolgefilm „Orlac’s Hände“ (Robert Wiene) – die Geschichte eines begnadeten Pianisten mit den transplantierten Händen eines Mörders.

Neben den Live-Vertonungen im einstigen Stummfilmkino laufen im BrotfabrikKino Filme, die mit „Das Cabinet des Dr. Caligari“ und „Orlac’s Hände“ auf vielfältige Weise korrespondieren. Für „Wozzeck“ (1947) schuf der Caligari-Mitarbeiter Hermann Warm das Bühnenbild, mit „Mad Love“ (1935) liegt ein vom deutschen Kamera-Pionier Karl Freund erstelltes B-Movie-Remake von „Orlac‘s Hände“ vor. Jüngere Arbeiten wie „Die letzte Rache“ (1982) oder Rosa von PraunheimsAnita – Tänze des Lasters“ (1988) spielen mit dem Pathos der Stummfilmzeit, unterlaufen die Klischees jedoch mit postmodernen Akzenten. Filme wie „The Cabinet of Caligari“ (1962) und „Santa Sangre“ (1989) bedienen sich der Sujets von Manipulation und Allmachtsphantasie, sie heben dabei den im Caligari angelegten Stoff auf psychedelisch-orgiastische Ebenen.

Filmszene: "Anita - Tänze des Lasters"

Auf der BrotfabrikBühne, ebenfalls im Delphi, zeigen internationale (Theater-)Aufführungen, wie Gruppen des Gegenwartstheaters die Ästhetik des Stummfilms in ihre Werke einfließen lassen. Unter dem Titel „(Re) Acting Caligari“ verwandeln sich die Räume der BrotfabrikGalerie in ein visuelles und akustisches Kabinett. Eine Podiumsdiskussion mit namhaften Filmwissenschaftlern stellt Fragen über die Nachhaltigkeit des Films sowie den „Caligarismus„, Synonym für eine Filmstilistik, die selbst noch in aktuellen Arbeiten wie Terry Gilliam’s „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ spürbar ist.

Martin Daßinnies

Somnambule – Erstes Internationales Caligari-Festvial 9. bis 19. September, ehemaliges Stummfilmkino Delphi, Brotfabrik, das gesamtes Programm unter: www.somnambule.brotfabrik.com

Das gesamte Filmprogramm:
Do., 9. September, 19 Uhr im ehemaligen Stummfilmkino DELPHI
Eröffnungsveranstaltung
Das Cabinet des Dr. Caligari“ – Live-Vertonung durch Thierry Zaboitzeff
Als Kopf des französischen Avantgarde-Ensembles „Art Zoyd“ hat Thierry Zaboitzeff bereits Stummfilme wie Faust, Nosferatu und Häxan vertont. Seine Neuvertonung des Caligari ist eine eigenständige Fusion aus Rock, keltischer Folklore, Jazz, Kammermusik und Industrial. (siehe auch: www.zaboitzeff.org).

Fr., 10. September, 19 Uhr + Mo., 13. September, 19 Uhr im BrotfabrikKino
Wozzeck“ – Mit einer Einführung von Dr. Christiane Mückenberger
In der kurzen Phase zwischen 1946 und 1952 wurden bei der DEFA einige Filme gedreht, die formal an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen versuchten. Die Büchner-Adaption stellt den mutigsten dieser Versuche dar: Das Bühnenbild wurde bei Hermann Warm in Auftrag gegeben. Warm hatte sich neben Walter Reimann für die Ausstattung im Caligari verantwortlich gezeichnet und damit den Stil des Films wesentlich mitgeprägt.

Fr., 10. September, 21 Uhr + Di.,14. September, 21. Uhr im BrotfabrikKino
Santa Sangre“ – Mit einer Einführung von Claus Löser
Jodorowsky hat mit Santa Sangre die klassische Caligari-Konstellation der unschuldigen Kreatur aufgegriffen, die von einer dämonischen Kraft für deren Allmachtsphantasien missbraucht wird. Was bei Wiene der somnambule Cesare war, ist 80 Jahre später nun das Zirkuskind Fenix, das gegen seinen Willen zum Mörder wird; seine eigene Mutter übernimmt die Funktion Caligaris als im Hintergrund bleibende Strippenzieherin.

Sa., 11. September, 20 Uhr im ehemaligen Stummfilmkino DELPHI
Orlacs Hände“ – Live-Vertonung durch Conrad Bauer
Dieser weithin vergessene Nachfolgefilm des Caligari entwirft das später beliebte Horrorfilm-Sujet eines „autonomem Teilobjekts“ (Žižek): Der begnadete Pianist Orlac verliert bei einem Eisenbahn-Unglück beide Hände. Nach der erfolgreichen Transplantation der Hände eines zum Tode verurteilten Mörders suchen ihn wahnhafte Visionen heim. Seine Hände entwickeln ein Eigenleben, er scheint selbst zum Mörder zu werden.

So., 12. September, 19 Uhr + Mo., 13. September, 21 Uhr im BrotfabrikKino
Anita – Tänze des Lasters
Eine Rentnerin identifiziert sich mehr und mehr mit der legendären Diva und Nackttänzerin Anita Berger (1899 – 1928) und wird in die Psychiatrie eingewiesen. In ihren Träumen erwachen die wilden 1920er Jahre zu neuem Leben: bunt, grell, verrucht. Ringsum bleibt die Wirklichkeit jedoch trist und grau. Lotti Huber in ihrer besten Rolle!

So., 12. September, 21 Uhr im BrotfabrikKino
Mad Love – The Hands of Orlac
Ein Low-Budget-Tonfilm-Hollywood-Remake von Orlacs Hände, diesmal mit Peter Lorre als verzweifeltem Ex-Pianisten, inszeniert vom deutschen Kameramann Karl Freund (u.a. „Metropolis“ und „Der letzte Mann„), der 1929 nach Hollywood ging. Berühmt wurde der Film auch durch Malcolm Lowrys Roman „Unter dem Vulkan“ (verfilmt von John Huston). „Mad Love“ blieb Karl Freunds letzter Film als Regisseur.

Di., 14. September, 19 Uhr + Mi., 15. September, 21 Uhr + Fr., 17. September, 21 Uhr im BrotfabrikKino
Die letzte Rache
„Der Plan“ war in den 1980er Jahren eine der wichtigsten Avantgarde-Bands, am ehesten noch mit „The Residents“ zu vergleichen. In Rainer Kirberg fanden sie einen kongenialen Partner, um endlich auch auf dem Gebiet des Films aktiv zu werden. Die letzte Rache entfaltet einen umfassenden Caligari-Kosmos und ist eine liebevolle Hommage an die Stummfilmzeit, die zugleich die Postmoderne in sich trägt.

Mi., 15. September, 19 Uhr im BrotfabrikKino
The Cabinet of Caligari
Nach dem Sensationserfolg von Hitchcocks „Psycho“ (1960), der auf einem Roman Robert Blochs basierte, erhielt der Autor weitere Aufträge aus Hollywood. In „The Cabinet of Caligari“ schickte er noch einmal eine junge Frau in ein unheimliches Haus, in dem sich Normalität und Wahn umkehren. Psychedelisch angehauchte und sehr freie Adaption des deutschen Stummfilmklassikers.

Do., 16. September, 21.30 Uhr im ehemaligen Stummfilmkino DELPHI + Fr., 17. September, 19 Uhr + Sa., 18. September, 21 Uhr im BrotfabrikKino
Im Schatten der Made“ Deutschlandpremiere in Anwesenheit von Regisseur John Bock
Der interdisziplinär arbeitende Künstler John Bock hat mit „Im Schatten der Made“ (2010) einen neoexpressionistischen Stummfilm geschaffen, der mit den Klischees des Genres spielt, dabei aber stets irritierende zeitgenössische Akzente zu setzen weiß. Erzählt wird die Erschaffung eines künstlichen Menschen, der sich in eine Frau verliebt und für seine irdischen Sehnsüchte keine Perspektive zu haben scheint.

Sa., 18. September, 19 Uhr im BrotfabrikKino
Caligari und der Schlafwandler“ – In Anwesenheit von Regisseur Javier Téllez
Der venezolanische, in New York lebende Künstler Javier Téllez zeigt in „Caligari und der Schlafwandler“ (2008) die Ebene der pathologischen Störungen, die erstmals im Expressionismus Eingang in die Kunst fand. Téllez, selbst Sohn zweier Psychiater, hat dabei mit psychisch Kranken gearbeitet. Er stellt die uns geläufige Form von Normalität und Pathologie infrage und verfolgt in seinen Filmen die Strategie, hierarchische Ordnungen zwischen Ärzten und Patienten umzudrehen.

So., 19. September, 20 Uhr im ehemaligen Stummfilmkino DELPHI
Das Cabinet des Dr. Caligari“ – Abschlussveranstaltung, Live-Vertonung durch Mars Brennen & Kerry Klonk (Voltron)
Mars Brennen und Kerry Klonk sind die Gitarristen und musikalischen Köpfe der Berliner Doomcore-Institution „Voltron„. Schwere, tiefer gestimmte Gitarren kreieren rohe, flirrende und psychedelische Klänge mit Anleihen aus Stoner, Metal und Sludge. Der Wahnsinn des Dr. Caligari findet ebenso seine musikalische Entsprechung wie die stille Verzweiflung des Somnambulen (siehe auch: www.voltron-is-victory.de).