Ulrich Weiß-Filmreihe im Arsenal


Wer den Film nicht als dissident zu lesen versucht, wird in eine Kritik an offiziellen Geschichtsmythen erkennen. Neben dieser Kritik vielleicht noch die melancholische Überlegung, wie mit all jenen umgegangen wurde, deren Widerstand nicht heroisch war. Ob in der Helden verehrenden Überhöhung der Widerstandskämpfer_innen und der mit ihr einhergehenden Selbsterniedrigung der übrigen nicht der Versuch durchschimmert, sich von der Verpflichtung zu Widerstand zu befreien. Eine Entschärfung der politischen Relevanz des Widerstands.

Gegen den Film haben das Politbüromitglied Hermann Axen und andere eingewandt, er zeige nicht wie es gewesen sei. Eine vollkommen zutreffende Bemerkung, nur fragt sich, wer den Film sieht, wie das bei einem Film der seines Regisseurs Allergien gegen historistischen Firlefanz geradezu herausschreit, Kritik sein kann. Weiß historische Reinszenierung ist näher an de Oliveira und einer entkünstelten Ulrike Ottinger als an den historisch präziseren Bedeutungslosigkeit von Rainer Simons „Die Frau und der Fremde“. Als hätte Weiß die Einwände vorweggenommen, bekommt die Bildsprache in „Dein unbekannter Bruder“ gegen Mitte nach einer symbolischen Szene in einem Nachtklub zunehmend Brüche. Ein Drang der Narration bricht durch, Weiß erzählt parallel den Weg von Clasens Verbindungsmann Walter (Michael Gwisdek) in den Verrat. Clasen schöpft früh Verdacht gegen Walter, bleibt mit dem Verdacht jedoch allein und wird schließlich von Walter verraten.

Die Figur Walters ist denn auch Weiß deutlichste Abweichung von der Romanvorlage: während Bredel Walter als von der Gestapo eingeschleusten Spitzel schildert, deutet Weiß‘ Drehbuch ihn um. Aus dem klaren Feindbild des Spitzels wird eine Figur der Schwäche: Weiß‘ Walter kommt aus den Reihen der illegalen KPD. Nicht ideologische Differenz, sondern menschliche Schwäche hat ihn zum Verräter gemacht.

Zu den Stimmen, die den Film verteidigten zählte unter anderem Günter Sobe, der schon 1984 im Kino- und Fernseh Almanach den Film vorsichtig in Schutz nahm und bemerkte: „Man wird sich aber mehr und mehr darauf einrichten müssen, daß gerade hier eine neue Aufarbeitungssicht einziehen wird, weil jüngere Regisseure, die keine direkte Begegnung mit jener Zeit hatten, entsprechende Stoffe inszenieren werden.“ Fred Gehler, der an einer ganzen Reihe von Filmen von Weiß mitgearbeitet hatte, interviewt Weiß 1982 unter dem Titel „Nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu sagen“ für den Sonntag.

In diesem Interview, sagt Ulrich Weiß über seinen Ansatz zu filmen: „Film – das ist für mich die Entdeckung der sinnlichen Welt. Die Dominanz des Sehens. Als das Kino entdeckt wurde, passierte folgendes. Die es machen, spekulieren darauf: Wir haben etwas gesehen und wollen es anderen mitteilen. Sie spekulieren auf das mögliche Sehen. Es ist, als säßen zwei Spieler zusammen, und der eine spielt vor, ich kann etwas sehen… Es geht nicht einfach darum, Sprache ins Bild zu übersetzen. Nichts kann so mühselig und so unfruchtbar sein wie das Inszenieren hinter klugen Sätzen her. Mich reizt die Entdeckung, was nur mit der klugen Kamera sinnlich herzustellen ist. Wir wissen noch wenig genug darüber. Einen Film als Vorstoß in die sinnliche Welt ansehen. Die Welt besteht ja nicht nur aus Sinn, sondern auch aus Sinnlichkeit.

Michael Gwisdek wird auch die Hauptrolle in dem Film spielen, den Ulrich Weiß anschließend und nahezu nahtlos inszeniert: „Olle Henry“ (DDR 1983). Die beiden Filme verbindet eine Vorliebe für Figuren, die ein außerhalb bleiben: wie Clasen ist die Gesellschaft, die den Boxer Henry Wolters umgibt nicht die seine. Nach dem Krieg zurück, findet er in dem abgestellten Eisenbahnwagon, den die Sexarbeiterin Xenia (Anikó Sáfár) bewohnt, einen Ort an dem er einstweilen in Ruhe gelassen wird. Schließlich versucht er notgedrungen aus dem Boxen wieder einen Gelderwerb zu machen. Henry bleibt fremd in einer Gesellschaft in der alle wieder weiter machen wollen, weiter machen müssen: ihm ist der Killer-Instinkt abhanden gekommen in einer Welt voller Ellenbogen. Die Bilder fallen nüchterner aus als in „Dein unbekannter Bruder„; „Olle Henry“ inszeniert den bunten Eskapismus der frühen Nachkriegszeit jenseits von Aufbruchsstimmung und Trümmerfrauen. Der Film ist eine schonungslose Darstellung des Überlebenskampfes subalterner Klassen, des Verdingens des eigenen Körpers zum Broterwerb.

Nach „Olle Henry“ bekommt Weiß keine Regieaufträge bei der DEFA mehr. Kurz vor der Wende wird 1988 in West-Deutschland von Maria Knilli ein Drehbuch von Ulrich Weiß verfilmt. Weiß firmiert unter dem Pseudonym Vera Haas. „Follow Me“ (BRD 1988) handelt von einem Philosophieprofessor aus der Tschechoslowakei der im Westen als Totengräber und Kofferträger arbeitet. Weiß bislang letzte Regiearbeit als Spielfilmregisseur ist „Miraculi“ von 1991.
Die Retrospektive der Filme Ulrich Weiß, die Erika Richter für das Arsenal kuratiert hat, läßt erahnen, welche Schätze es in dieser nahen Vergangenheit der DEFA-Filmgeschichte zu heben gibt.

Fabian Tietke

Über den Autor:
Fabian Tietke ist Mitarbeiter des Zeughauskinos in Berlin und kuratiert mit der Gruppe The Canine Condition Filmreihen, zuletzt im Juni 2010 Spuren eines Dritten Kinos. Sein filmhistorisches Interesse gilt Film und sozialen Bewegungen, der italienischen und nordafrikanischen Filmgeschichte. Er bloggt unter aufsmaulsuppe.blogsport.eu, ueberbau.blogspot.com und thecaninecondition.net und schreibt für eine Reihe von Printmedien über Film, Filmpolitik und anderes.

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