François Truffaut Retrospektive im Lichtblick
Ein Schlüsselkind verändert das Kino
1956 benutzte der Münchner Pädagoge Otto Speck erstmalig das Wort Schlüsselkind. Als Schlüsselkinder wurden solche Kinder definiert, die nach Schulschluss größtenteils sich selbst überlassen waren (und sind) – Fernsehen schauen, Süßigkeiten naschen oder die Nachbarschaft unsicher machen. Die Väter diese Kinder waren entweder in einem Krieg gefallen oder arbeiteten gute 60 Stunden die Woche. Gleichzeitig trat die Emanzipation der Frauen in die Phase ein, in der sich die Mehrheit der Frauen nach beruflicher und akademischer Qualifikation sehnte und damit wenig Zeit für den Nachwuchs aufbringen konnte – oder wollte.
Der Nachwuchs landete allzu oft bei den Großeltern. Wie auch im Falle eines der bekanntesten Schlüsselkinder des 20. Jahrhunderts: François Truffaut. Vom 14. Juli bis 3. August zeigt das Lichtblick-Kino eine Reihe seiner Arbeiten. Gute 24 Jahre vor der Einführung der Begrifflichkeit Schlüsselkind wurde Truffaut am 6.Februar 1932 in Paris geboren. Sein Vater war Architekt und seine Mutter Sekretärin. Aus mangelndem Interesse und kaum verfügbarer Zeit reichten ihn die Eltern in seinen ersten zehn Jahren häufig an seine Großmutter weiter. Erst nach deren Tod, im Jahre 1942, kehrte er zurück zu den Eltern. Als Kind schwänzte er häufig die Schule um ins Kino zu gehen, galt als schwererziehbar und durchwanderte mehrere Erziehungsheime. Mit 14 verließ er die Schule, begann eigenständig Filmkritiken zu schreiben und diese als Rundbriefe an Pariser Haushalte zu verteilen.
1947 lernte der 15-jährige Truffaut André Bazin kennen, der ihm zum einen bei seiner unehrenhaften Entlassung aus der Armee half und zum anderen seine Leidenschaft für das Schreiben in geeignete Bahnen lenkte. So schrieb Truffaut ab Anfang der 1950er für die Zeitschriften Arts und Cahiers du cinéma. Sein 1954 verfasster Artikel „Eine gewisse Tendenz im französischen Film“ gilt als Gründungsschrift und Manifest der Nouvelle Vague. Doch so begabt er auch als Kritiker war, es trieb ihn zur Quelle, zum Filme machen selbst.
Nicht ohne Hintergedanken heiratete er 1957 die Tochter eines der mächtigsten Filmverleihers in Frankreich, Madeleine Morgenstern. Mit seinem ersten Spielfilm „Sie küßten und Sie schlugen ihn“ (1959) zeichnete ihn prompt das Filmfestival von Cannes mit dem Preis für die Beste Regie aus. Dieser Film gilt als Begründung der Nouvelle Vague und ist gleichzeitig der Auftakt des Antoine Doinel-Zyklus, den Truffaut mit „Geraubte Küsse„, „Tisch und Bett“ sowie „Liebe auf der Flucht“ fortsetzte. Sie stellen Truffauts Rache gegenüber seiner Umwelt da. So weist die Figur des Antoine Doinel nicht nur einige autobiografische Züge Truffauts auf, Doinel ist Truffauts Alter ego. Danach folgte „Schießen Sie auf den Pianisten„, dass die tragische Frace eines menschenscheuen Musikers und seine unfreiwillige Verstrickung in die Halbwelt von Paris nachzeichnet. Obwohl Hitchcock und Renoir ästhethisch offensichtlich Pate standen, wurde der Film ein kommerzieller Misserfolg. Anfang der 1960er führte Truffaut ein etwa fünfzig stündiges Interview mit seinem großen Helden. Heraus kam ein Standardwerk der Filmkritik: „Mr. Hitchcock, wie haben sie das gemacht?“ Truffauts Kernanliegen war die cineastische Suche nach dem Streben nach Glück – und dem scheinbar unausweichlichen Scheitern auf dem Wege dorthin. Hedonisten waren letzten Endes nur Heuchler für ihn. So war es nur eine Frage der Zeit bis ihn Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ in die Hände fiel. Obwohl es keine Liebesgroteske, sondern ein Science-Fiction-Roman ist, enthält es alle Elemente die François Truffaut Nahrung für eine Verfilmung liefern: Eine Gesellschaft die nach Glückseeligkeit strebt, eine Feuerwehr die Bücher verbrennt und ein Protagonist der sich Fragen über die Richtigkeit seines Handelns stellt.
Pablo Picasso sagte einmal „Jeder Akt der Schöpfung ist zuerst ein Akt der Zerstörung„. In Fahrenheit 451 wird das ganze wortwörtlich genommen. Bücher bringen Menschen zum denken und wenn Menschen anfangen zu denken, beginnen sie zu begreifen, dass ihr Leben nicht so perfekt ist, wie sie es sich wünschen. Der Hedonismus endet beim Akt der Reflexion.
François Truffaut starb am 21. Oktober 1984 in Neuilly-sur-Seine an den Folgen eines Gehirntumors. In seinem 52-jährigen Leben hinterließ „der Mann mit der Seele eines Kindes“ (Steven Spielberg) mit der Nouvelle Vague ein völlig neues Genre und über zwei dutzend Filme von denen das Lichtblick Kino (Kastanienallee 77, Berlin-Prenzlauer Berg) 14 Stück zu dieser aktuellen Retrospektive zusammenfasste.
Hier das Programm bis zum 3. August zum Download. Die Reihe wird danach fortgesetzt.
Joris J.