Teil 2: Wir blicken zurück auf das Jahr 2012


"O Som Ao Redor"

Filmszene: "O Som Ao Redor"

Wir schauen mit unserer Festival-Berichterstattung regelmäßig über Berlin hinaus. So finden sich unsere Autoren auch mal in Stuttgart beim Indischen Filmfestial wieder. Oder in Frankreich, beim größten Animationsfilmfestival der Welt. Zu einem Festival gehören jedoch nicht nur Filme. Man saugt Stimmungen auf. Trifft die verschiedensten Charaktere und arbeitet sich selbst an den unterschiedlichsten Emotionen ab, etwa wenn eine humoristischer Film auf einen nur schwer greifbaren Streifen folgt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Filmfestivals – gerade in Berlin – zunehmend mehr Publikum gewinnen. Der Zuschauer erlebt anderes, in vielen Facetten sehr dynamisches Kino.

EXILIERT IM KINO von Marie Ketzscher

Fremd im Kino oder das Kino der Fremde – mein 2012 war ein Kontrastjahr cineastischen Erlebens, mit Stuttgart als Basis und Mitteleuropa als weitem Blick. In Annecy, beim größten Animationsfilmfestival der Welt war diese Fremde vor allem das andere Hingucken – das interaktive Moment zwischen Leinwand und Zuschauer, das wie der Mythos einer Rocky Horror Picture Show sieben Tage lang mit Papierfliegern und Zwischenrufen zelebriert wird. Inmitten dieser Andersartigkeit auch passenderweise die Suche nach Identität und Heimat, nach Festhalten: Laurent Boileaus und Henin Jungs „Le couleur du peau: miel“ (Approved für Adoption) war ein absolutes Sentimentalitätshighlight 2012. Animator Henin Jung, 1971 als koreanisches Kind von seinen belgischen Eltern adoptiert, sucht mithilfe von Animationssequenzen, Fotografien und Jetzt-Aufnahmen sein Ich, seine Herkunft und ist dabei anrührend persönlich und ehrlich fragmentarisch.

Überhaupt: 2012 war ein gutes Jahr für den Dokumentarfilm, der zwischen persönlichem Anliegen und Weltrelevanz changiert. Zum Beispiel der bei der Viennale viel beklatschte „Searching for Sugar Man„, der es sogar im elitären BBC-Trenchcoat-Format „Talking Movies“ unter die Top Ten des Jahres brachte. Malik Bendjellouls Dokumenation sucht den amerikanischen Musiker Rodriguez, der mit zwei gefloppten Studioalben Anfang der 70er heute so erfrischend ungeschönt und klar klingt, dass man die Beharrlichkeit einer Suche nie besser nachvollziehen konnte. Ein weiteres, in seinem Selbstverständnis geradezu klassisches Dok-Filmhighlight: Micha X. Peleds „Bitter Seeds„, das indische Kleinbauern und ihren aussichtslosen Kampf gegen Monsanto zeigt – ein Film, der niemals einen Kinostart erhalten würde, ein Plädoyer für das bewusste Wahrnehmen der Globalisierung.

Die schönste Fremde lieferte aber der Episodenfilm „O Som Ao Redor“ von Kleber Mendonça Filho, der Altmans Short Cuts aufgreift und dem Zuschauer als brasilianisches, bitterböses Meistwerk um die Ohren haut. Ein Feuerwerk, im wahrsten Sinne des Wortes. In seiner kunstvollen Konsequenz ähnlich begeisternd: Leos Carax „Holy Motors„, einer Hommage an vielleicht nie da gewesenes Kino, bestehend aus Maskerade und Intensität, die Grenze zur Absurdität, zum Unterbewussten ganz bewusst durchbrechend. Das Unterbewusste: vielleicht dann doch die weiteste Reise 2012.

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