38. Festival international du film d’animation d’Annecy

Das Annecy Blog 2014



Tag 2 – Keine Gespräche über Animation

Auf das „Au revoir“ der Kassiererin antwortete ich noch am Montag laut, selbstbewusst und viel zu deutsch mit einem „Bonjour“. Dieses schöne Zeichen der sprachlichen Überforderung ist Gott sei Dank schon am zweiten Festivaltag passé – zu viele Animatoren aus aller Welt, zu viele Sprachen und zu viele Franzosen, die partout kein Englisch sprechen wollen oder können. Die folgenden Gespräche vor den Kinosälen, in den Sesseln oder auf den Empfängen bringen ein bisschen Übung rein: So viel Französisch habe ich meine ganze Schulfranzösischkarriere noch nicht gesprochen.

Die sprachliche Fremdheit ist auch eine viel thematisierte Problematik in den Wettbewerbsbeiträgen, wobei es wohl kaum drastischer geht als in „Lisa Limone and Maroc Orange: A Rapid Lovestory„. Der Film – als erste estnische 3D Stereo Stop-Motion Opera im angepriesen – will nicht weniger sein, als eine Geschichte über Flucht, Immigration, Rassismus, westliche und afrikanische Mentalitäten und die große Liebe. Es geht opulent zu in Bild, in Ton und Erzählrhythmus. Und es darf viel gelacht werden. Die Geschichte: Maroc Orange kentert mit einem Flüchtlingsboot, überlebt als Einziger die Überfahrt, er gerät in eine Ladung Tomaten und wird in der Folge als Tomatenpflücker versklavt – Lisa Limone erfährt durch eine sprechende Muschel von seiner Existenz und rettet ihn, obwohl sie die Tochter des Tomatenfarmbesitzers ist. Happy Ending – oder? Ganz so einfach ist es nicht, denn Mait Laas hat sich bewusst für eine Kontextualisierung entschieden, die das Publikum herausfordert und damit im Grunde jegliche positive, optimistische Deutung unmöglich macht.

Lisa Limone and Maroc Orange: A Rapid Lovestory“ ist nicht irgendeine zeitlose Liebes- oder Flüchtlingsgeschichte, denn Maroc Orange kommt aus Marokko und Lisa Limone ist eine Italienerin, das kenternde Boot geht vor Lampedusa unter. Der Film wird als Film im Film erzählt: Ein Moderator führt durch die Liebesgeschichte und als das Happy Ending längst beschlossen scheint, flackert mitten im animierten Setting eine Live-Action-Frequenz über den Bildschirm, die die tatsächlichen Flüchtlinge vor Lampedusa zeigt. No way out. Manchen mag Mait Laas Immigrationsoper zu schwarz-weiß erscheinen (Täter und Opfer sind sofort erkennbar) – aber dafür wird nach allen Seiten immens ausgeteilt. Ein grandioser, ein wichtiger Film.

Es gibt Kaffee danach, mitten in der brütenden Sonne und leider kein Gespräch über das eben Gesehene. Der Film wirkt auf seine eigene Art und Weise nach, als Erinnerung, als kleiner dumpfer Gewissensbiss. Vielleicht ist die Abwesenheit eines Resümees auch den vielen anderen, durchaus politischen Gesprächen zwischen den Vorstellungen geschuldet: Mit einer Russin über die Ukraine sprechen, mit einem Franzosen über den Front National – ein Filmfestival ist erst dann ein gutes Filmfestival, wenn es nicht nur um Filme geht.

Im Kontrast zum grellen, bunten politischen Bilderbonbon „Lisa Limone and Maroc Orange: A Rapid Lovestory“ wirkt das Werk von Lladislas Starewitch (1882-1965) unglaublich naiv-kindlich – und auch ein bisschen angestaubt. Der russische Animator gilt vielen als Vorreiter. Starewitch begann schon vor dem 1. Weltkrieg seine ersten Stop-Motion-Filme zu drehen, oft mit kleinen präparierten Tiermarionetten. Die vier in Annecy gezeigten Shorts – „La Cigale et la Fourmi„, „Amour noir et amour blanc„, „Dans les griffes de l’araignée“ und „La Reine des papillons“ – demonstrieren seine Risikofreude und Originalität. Sie zeigen, was bereits in den 20er Jahren so möglich war: da atmet eine Spinne schwer (der Bauch hebt und senkt sich) oder man sieht einer Zikade tatsächlich an, wie genervt sie ist (die Augen verdrehen sich). Die dramatische Musik unterstreicht den dramatischen Effekt dieser wunderbaren Szenen. Oft sind Nuancierungen aber technisch noch nicht möglich und so nutzt Starewitch die Mittel der Überzeichnung und Wiederholung, um seine Narrative voran zu bringen – Kämpfe zwischen Ameisen und Spinnen dauern dann gern mal fünf Minuten. Die Tiere sind oft interessanter als die erzählten Geschichten. Es bleibt der Charme des alten, staubigen Klassikers.

Kunstfilme sind nicht das abend-dominierende Thema, au contraire. Stattdessen gibt es das traditionelle Disney BBQ, total exklusiv, mit Füßen im Sand am Strand von Annecy und dazu die passenden Gespräche über Blockbuster-Kino. Es wird Wein in weißen Plastik-Weingläsern gereicht, der sofort in die Synapsen beißt. Ich unterhalte mich zwei Stunden mit einer schönen Französin auf Französisch und fühle mich sehr heimisch in Annecy. Plötzlich ist sie so entsetzt, dass ihr fast das Glas aus der Hand fällt: Ich habe ihr eröffnet, dass ich „Jurassic Park“ nie gesehen habe. Ich gelobe feierlich, das Versäumte nachzuholen; irgendwann nach Annecy.

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