BFF on the Road: 58. Nordische Filmtage Lübeck
Immersion, Isolation, Integration
Beeindruckt zeigte sich das Publikum auch von den beiden deutschen Pier 53-Produktionen „Deportation Class“ (von Carsten Rau & Hauke Wendler) und „Alles gut“ (von Pia Lenz). Ihre Protagonisten sind Familien und Kinder, die mit der Drohkulisse Abschiebung umzugehen versuchen. Der Zuschauer wird Zeuge mit welchen – teils rechtswidrigen – Methoden sogenannte Zuführkommandos Menschen nachts in ihren Wohnungen oder Unterkünften geradezu überfallen und binnen 30 Minuten zur Ausreise bewegen, ganz ohne Dolmetscher. Handys werden eingezogen, um die Versuche, Anwälte zu informieren, sofort im Keim zu ersticken. Und sollten Kinder gerade auf Klassenfahrt sein, dann wird umstandslos „nur“ ein Teil der Familie abgeschoben.
Für „Deporation Class“ begleitete Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier kurz vor den Landtagswahlen auch schon mal selbst eine Abschiebevollstreckung und will damit offenbar vor der Kamera die Durchsetzungsfähigkeit der CDU unter Beweis stellen. Am Ende ist die Kamera Zeugin seiner Sprachlosigkeit. Welche Folgen die bis in die ursprünglich vom Grundgesetz garantierten Schutzräume, wie beispielsweise Schule und Wohnung, vordringenden Abschiebekommandos auch bei Kindern hinterlassen, zeigte Pia Lenz in „Alles gut“. Es sind erschütternde Dokumente, die sichtbar machen, was sonst kaum zur Kenntnis genommen wird und viele im Saal fassungslos und ungläubig zurücklässt.
Wohin die Festivalgäste während der Filmtage auch schauten, fast überall dominierten Krisen. Ob es das Kinosterben am Beispiel Finnlands ist („Tempel der Träume“ von Jouko Aaltonen), die Konsequenzen der emanzipierten Individualgesesellschaft („The Swedish Theory of Love“ von Eric Gandini), das passive Warten auf ein Wunder im perspektivlosen Litauen („Der Heilige“ von Andrius Blazevicius), die Aufarbeitung systematischen Missbrauchs in Erziehungsheimen („Der Tag wird kommen“ von Jesper W. Nielsen) oder die Überwindung ganz privater Herausforderungen, wie das Laufenlernen mit Prothesen („Die Standhaften“ vonLisa Ohlin) oder der Kraftakt des Heranwachsens, den „Im Blut“ von Rasmus Heisterberg und „Herzstein“ von Guðmundur Arnar Guðmundsson zeigen.
Weiterlesen: Unsere ausführliche Kritik „Schweres Herz“ zu „Herzstein“…
Trotzdem herrschte nicht nur Schwermut im Programm. Zumindest die Spielfilme gaben sich alle Mühe, das Publikum versöhnlich und hoffnungsvoll aus dem Kinosaal zu entlassen. Zu den überzeugendsten Wettbewerbsbeiträgen zählten „Herzstein, das isländische Filmdebüt Gudmundssons, und das dänische Filmdebüt „Im Blut“ des bisher eher als erfolgreicher Drehbuchautor in Erscheinung getretenen Rasmus Heisterberg („The Girl with the Dragon Tattoo“, „A Royal Affair“). Beide Filme beschreiben mit überwältigender Sensibilität und aus unterschiedlichsten Perspektiven das Gefühl der Isolation an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt. Für die Figuren in ihren Filmen sind es harte Zeiten des Umbruchs zwischen Aufbruch und Verlust, Unschuld und Verantwortung, Freundschaft und Liebe, alten und neuen Wegen.