Queering the Experimental
Das 16. XPOSED Queer Film Festival als Bühne und Community-Treffpunkt für queeres Filmschaffen
Weder ausschließlich Happy End noch zu Tode betrübtes Drama: Das XPOSED Queer Film Festival Berlin füllt seit Jahren den wichtigen Mittelgrund und das Sowohl-Als-Auch im queeren, zeitgenössischen Film. Vor allem das Experimentelle nimmt in der dokumentarischen, fiktionalen und in der kurzen Form großen Raum ein, das ändert sich auch nicht bei der ersten von Merle Groneweg allein geleiteten 16. Festivalausgabe. Produktionsjahre sind dem XPOSED traditionell eher wurscht, was dem Programm immer gut tut – so kann es dann sein, dass man versteckte Perlen wie den leisen BRTHR (2017) beim Suchen entdeckt, aber eben auch brandneue Werke. Insgesamt zeigt das Festival vom 26. bis 29. Mai im Moviemento, Il Kino und Wolf Kino 13 Langfilme und 42 Kurzfilme; außerdem gibt es ein Online-Programm im Salzgeber Club und einen Wikipedia Edit-a-thon, der aktiv die Mis- und Unterrepräsentation queerer Filmemacher*innen angehen will.
Über vier Tage verteilt können queere Film-Liebhaber*innen und Liebhaber*innen des queeren Films auf ihre Kosten kommen. Queer bezieht das Festival dabei oft nicht nur auf ein Narrativ, sondern auf die Form und die Haltung, aus der Filme heraus entstehen, als Möglichkeit der Utopie und realen Intervention: „Die 16. Ausgabe von XPOSED feiert Queerness als eine Herangehensweise, eine Erfahrung, und eine Perspektive auf die Welt“, spezifiziert Merle Groneweg den Begriff der Queerness.
Aus dem aktuellen internationalen Festivalbetrieb haben es unter anderem Anisia Uzeymans und Saul Williams viel gelobtes afrofuturistisches Punk-Sci-Fi-Musical NEPTUNE’S FROST (siehe zum Beispiel Festivalreview von über den Teich von Amber Wilkinson) oder die Gewinnerfilme des Teddy Awards, dem queeren Filmpreis der Berlinale – TRêS TIGRES TRISTES (THREE TIDY TIGERS TIED A TIE TIGHTER) von Gustavo Vinagre (Gewinnerfilm 2022), sowie MIGUEL’S WAR von Eliane Raheb (Gewinnerfilm 2021) – ins Programm geschafft. Und Internationalität bleibt auch ein Hauptbestandteil des Festivals: die Kurzfilme stammen beispielsweise aus rund 40 Ländern.
Für Fans von Retrospektiven gibt es Iván Zuluetas Underground-Klassiker ARREBATO (Beispiel für die movidas madrileñas, als Subkultur-Bewegung, die nach Franco die Lebenslust in exaltierten Formen herauskehrt) aus dem Jahr 1979 und Kim Longinottos und Jano Williams SHINJUKU BOYS aus dem Jahr 1994 über die queere japanische Subkultur der Onnabes (Frauen, die als Männer leben und mit Frauen zusammenleben, sich aber oft nicht als lesbisch identifizieren) zu entdecken. Und natürlich darf am 29. Mai der krönende Abschluss mit den Lolly Awards nicht fehlen, die dieses Jahr von der Jury aus den Filmkurator*innen, Filmschaffenden und Theoretiker*innen Kareem Baholzer, Dan Dansen, Antke Engel und Djamila Grandits vergeben werden.
Im Folgenden finden sich Empfehlungen aus dem diesjährigen Filmprogramm:
MIGUEL’S WAR
Darum geht es:
Michel und Miguel beziehungsweise den Versuch des Protagonisten, sein traumatisches Aufwachsen im bürgerkriegsgeplagten Libanon der 70er und 80er Jahre sowie den Bruch mit seinen konservativem Elternhaus (vor allem der Mama – Ödipus is everywhere) durch einen Neustart in Barcelona in den 90ern zu bewältigen. Und als erfolgreicher, homosexueller Mann endlich angstbefreit und lustvoll zu leben. Aber die Vergangenheit und selbst die christlichen Ideen von Schuld und Sünde holen ihn immer wieder ein.
Was du zum Film wissen musst:
Der Film ist im ständigen Dialog mit der Regisseurin Eliane Raheb entstanden, der sich auch vor der Kamera abspielt. Dabei verfällt sie nie der Versuchung, biografische Gradlinigkeit zu behaupten oder dem Charme ihres Protagonisten zu erliegen. Im Gegenteil: Es gibt bisweilen unangenehme Geständnisse (zum Beispiel Vergewaltigungsfantasien), von denen man sich fragt, ob sie wirklich ausbuchstabiert werden mussten. Doch durch Rahebs Mut zum formalen Experiment inklusive traumabewältigender Reenactments sowie animiertem und tatsächlichem Maskenspiel fesselt MIGUEL’S WAR. Immenser Pluspunkt: So viel Backgroundinfo inklusive völlig verwirrender und sich widersprechender historischer Fakten um den Bürgerkrieg habe ich selten durch einen Film verpasst bekommen. In der derzeitigen Lage, in der plötzlich wieder vom klar umrissenen Gut und Böse die Rede ist, ein erfrischende, wichtige Kontextualisierung.
Termin beim 16. XPOSED
28. Mai 2022, 21:10 Uhr, Wolf Kino
EGÚNGÚN
Darum geht es:
Eine junge Frau kehrt für das Begräbnis ihrer Mutter nach Nigeria zurück. Die Rückkehr ist Heilungsprozess und Wunden-Aufreißen zugleich, weil sie ständig damit konfrontiert wird, warum sie das Land verlassen hat.
Was du zum Film wissen musst:
Olive Nwosu erzählt in diesem Kurzfilm von einer fast verloren geglaubten lesbischen Liebe sowie von nigerianischem Alltag – und vor allem von Trauerkultur. Das Drehbuch an sich weist wenig innovative Züge auf, aber mit ihrem genauen Blick für Traditionen und Lebensstile in und zwischen unterschiedlichen Kulturen verleiht Nwosu EGÚNGÚN eine ganz eigene Handschrift.
Termin beim 16. XPOSED
26. Mai 2022, 18:00 & 18:30, Moviemento (Opening Night Shorts Programm)
BRTHR
Darum geht es:
Die Komplexität geschwisterlicher Liebe. Und einen Bruder, der sein Erwachsenwerden und Queer-Sein in einer analog-digitalen Welt navigiert.
Was du zum Film wissen musst:
Inma Veigas BRTHR ist auch laut Selbstbeschreibung ein Film, „wie ihn nur Geschwister übereinander machen können“. Zwischen Intimität und Distanz changierend ist Veigas unprätentiöser, ganz im Moment verweilender Dok-Essay ein bewegendes Kleinod.
Termin beim 16. XPOSED
29. Mai 2022, 18:00 Uhr, Moviemento
SCUM MUTATION
Darum geht es:
Autoritäre Regime, Misogynie, Endzeit-Kapitalismus und und und. SCUM MUTATION ist ein überbordendes visuelles und auditives Überforderungssammelsurium aktueller Schrecklichkeiten. Die von individueller Traumatisierung, aber auch von der Möglichkeit kollektiver, aktivistischer Traumabewältigung erzählen will.
Was du zum Film wissen musst:
Der experimentelle 3D-Animationsfilm SCUM MUTATION bombardiert die Zuschauer*innen mit einer endlosen Zahl an abartigen Geschöpfen, die sich ständig transformieren – nur um noch widerlicher zu werden. Hinzu kommt ein immer lauter und aggressiver werdender Soundteppich. Man muss die Message von Ov nicht teilen (z.B. dass es eine geschichtlich völlig ungebrochene Kontinuität der Misogynie ins Jetzt und Hier gibt, und dass jede reaktionärer Backlash mit der kommenden Apokalypse zusammenhängt), aber die Wut und aktivistische Präsenz des Films ist ungemein beeindruckend.
Termin beim 16. XPOSED
27. Mai 2021, 20:15 Uhr, Moviemento (Programm: Shorts 3)
Das 16. XPOSED QUEER FILM FESTIVAL findet vom 26. bis 29. Mai im Kino Moviemento, Il Kino und Wolf Kino statt.