„Eine einzig richtige filmische Umsetzung eines Gedichtes gibt es nicht“


Thomas Zandegiacomo Del Bel, Künstlerischer Leiter des ZEBRA POETRY FILM FESTIVA in Berlin. Foto: Natalia Reich

Von 3. bis 6. November 2022 findet das ZEBRA POETRY FILM FESTIVAL in Berlin statt. Im Interview mit Thomas Zandegiacomo Del Bel, dem Künstlerischen Leiter des Filmfestivals, erfahren wir, dass sich die vom Krieg und den großen Sorgen unserer Zeit aufgewühlte Welt nicht nur in einem der Ukraine gewidmeten Fokus spiegelt, dass bei Poesiefilmen die Bildebenen auch gegen die Textebenen arbeiten können und welche Veranstaltungen niemand verpassen sollte.

Das ZEBRA Poetry Festival widmet sich einer besonderen Nische, nämlich Kurzfilmen, die Poesie eine Bildebene zuschreiben, was löst das beim Publikum aus?
Thomas Zandegiacomo Del Bel: Das kann beim Publikum sehr starke Emotionen hervorrufen, da die sich Gedichte, die in den Filmen zu hören oder zu lesen sind, wichtigen Themen wie Flucht, Vertreibung, Krieg aber auch Depression oder Traumata widmen. Aber auch Themen wie Familie, Liebe und Beziehung spielen eine große Rolle. Die Poesiefilme behandeln aktuelle Themen, die uns jetzt bewegen. Umweltverschmutzung, Klimakrise und Urbanisierung gehören ebenfalls zu den Themen.

Im Internationalen Wettbewerb kürt das ZEBRA seit vielen Jahren die besten Poesiefilme des Jahres. Welche Kriterien legt ihr an, um Werke für diese illustre Auswahl zu nominieren?
Für die Auswahl der Filme steht uns eine mehrköpfige Programmkommission zur Seite, die sowohl die lyrischen als auch die filmischen Qualitäten der Einreichungen beurteilt. Beide Künste sollten in gleicher Qualität vertreten sein. Dabei spielen die Texte eine genauso große Rolle, wie ihre bildliche Umsetzung. Wenn möglich sollten die Filme die Gedichte nicht illustrieren, sondern mit eigenen Bildern, Metaphern oder anderen stilistischen Mitteln ergänzen. Gerne können die Bildebenen auch gegen die Textebenen arbeiten. Die Umsetzungen ein und desselben Gedichtes können, ja müssen sogar, unterschiedlich sein. Wir sehen das immer bei unserer alljährlichen Ausschreibung zur Verfilmung des Festivalgedichts. Eine einzig richtige filmische Umsetzung eines Gedichtes gibt es nicht.

Du siehst jedes Jahr hunderte solcher Werke, die eingereicht werden. Gibt es so etwas wie einen Kardinalsfehler? Ein No-Go, das sich wiederholt?
Wir unterscheiden zwischen poetischen Filmen und Poesiefilmen. Poetische Filme müssen nicht auf einem geschriebenen Gedicht basieren, da sie in ihrer Struktur lyrisch sein können. Wir suchen allerdings nach Adaptionen von geschrieben Gedichten. Das Gedicht muss bei der Einreichung vorhanden sein. Das unterscheidet das ZEBRA von anderen Kurzfilmfestivals, die auch experimentelle oder poetische Filme auswählen. So kommt es immer wieder vor, dass den Filmen keine Gedichte zugrunde liegen. Diese Filme sind meist sehr gut, doch nicht fürs ZEBRA geeignet.

Das Festival widmet seinen Fokus dem Poesiefilmschaffen aus der Ukraine. Sowohl Poesie als auch Film eignet sich, um das unbegreifliche, was in dem Land passiert, abzubilden. Zeichnet sich der Krieg auch in der Auswahl wieder?
Ja, Krieg, Flucht und Vertreibung sind auch Themen der Filme und Gedichte, die wir präsentieren. Die Filme stammen aus den letzten zehn Jahren und widmen sich auch anderen Themen wie mediale Beeinflussung, Einsamkeit oder Liebe. Die Gedichte sind sehr neu und behandeln natürlich die aktuelle Situation.

Wir haben Dichter:innen aus der Ukraine und aus deutschsprachigen Ländern eingeladen, einander zu begegnen. Viele von ihnen sind bereits Teil von Poesiefilmen geworden, ihre Filme laufen im aktuellen Programm oder waren in den letzten Jahren zum Festival eingeladen. In diesem Jahr wollen wir außerdem Autor:innen und ihre Gedichte vorstellen, die wir der geneigten Filmwelt zur Bearbeitung als Herz legen.

Der Themenschwerpunkt des Festivals liegt auf Poesiefilmen und Dichtung aus der Ukraine. In zweisprachigen Lesungen stellen wir zehn aktuelle ukrainische Autor:innen vor, die auf vier Lyriker:innen aus der Schweiz und sechs aus Deutschland treffen. Sie alle geben Einblicke in ihre poetischen und politischen Bildwelten und präsentieren Neuestes aus ihrem Werk.

Vollbesetztes Kino beim Zebra. Foto: (c) Mirko Lux

Der Name der Sektion lässt es erahnen, in „Prisma“ gebt ihr Einblicke in die Diversität der aktuellen Poesiefilmszene. Gibt es da Trends zu beobachten?
Die Trends der aktuellen Poesiefilmszene haben wir verschiedene Themenblöcke untergliedert. Auch über den Länderfokus hinaus präsentiert das Festival Texte und Poesiefilme zum Querschnittsthema 2022: Kriegs- und Gewalterfahrungen, Flucht, Vertreibung und erzwungene Migration sowie transgenerationale Traumata. Weitere Themen sind Mental Health, Pandemie und natürlich der Eingriff der Menschen in die Natur. Es sind die aktuellen Ereignisse, die mittelbar oder auch unmittelbar das Schaffen der Künstler:innen beeinflussen.

Welchen Festivalabend sollte keine Besucherin verpassen?
Oh, das ist eine schwierige Frage, da alle Programme absolut sehens- und hörenswert sind. Wir haben einen hervorragenden Wettbewerb und ein ebenso sehenswertes Prisma-Programm zusammengestellt. Die Lesungen werden ebenfalls ein großes Erlebnis sein, da die Dichter:innen bislang unübersetzte Gedichte präsentieren werden. Äußert interessant verspricht das Kolloquium „Krieg und Flucht – Poesie als Bewältigungsstrategie?“ zu werden. Im Fokus Ukraine präsentieren wir in einer Retrospektive Filme der großartigen Filmpionierin Maya Deren. Und nicht zu vergessen, die Meisterklasse mit der ukrainischen Filmmusikerin Maryana Klochko.

Die Fragen stellte Denis Demmerle.