„Besonderheit des portugiesischen Kinos ist die Freiheit“
Im Interview spricht Helena Araújo, Leiterin der Portuguese Cinema Days, die von 5. November bis 6. Dezember im Moviemento gastieren, über die Highlights des Programms und die Stärken des portugiesischen Kinos.
Helena Araújo, die wichtigste Frage zuerst: Wieso sollten sich die Berlinerinnen und Berliner auf das portugiesische Kino einlassen? Wo liegen seine Stärken?
Helena Araújo: Wir sprechen hier über das aktuelle portugiesische Kino, das immer vielfältiger und facettenreicher wird. Eine der Besonderheiten des portugiesischen Kinos ist die Freiheit: Es gibt keine bestimmte Vorgabe oder Tradition von Themen, von Ansätzen, von Vorgehensweisen. Die andere Besonderheit ist die Kreativität, die sich aus der Knappheit der Mittel ergibt. Wie Manoel de Oliveira sagte: „Wenn man nicht das Geld hat, den ganzen Zug zu filmen, filmt man nur ein Rad. Aber dieses Rad muss wirklich gut sein!“. Und so präsentieren wir dem Berliner Publikum 19 exzellente „Räder“: Spiel- und Dokumentarfilme, Kurz- und Animationsfilme. Einige davon sind hybride Werke, die sich nicht endgültig einordnen lassen. In allen wird Portugal vorgestellt: die Qualität der portugiesischen FilmemacherInnen und die Vielfalt der Themen, die die portugiesische Gesellschaft derzeit beschäftigen.
Die Themen der Filme sind ein wichtiger Aspekt jedes nationalen Filmfestivals, weil sie es dem Publikum ermöglichen, die jeweilige Gesellschaft besser kennenzulernen – was, in unserem Fall, für den Aufbau einer soliden Europäischen Union von grundlegender Bedeutung ist. Und auch, weil umgekehrt der Kontakt mit anderen Realitäten unsere Sicht auf uns selbst bereichert. Dies ist zum Beispiel bei einigen unserer Filme in diesem Jahr zum Thema Auswanderung der Fall. Sie ermöglichen Menschen einer Gesellschaft, mehr über die Realität von Menschen zu erfahren, die aus anderen Ländern kommen, um hier zu leben und zu arbeiten.
Lässt sich anhand eures Programms ein filmischer Trend erkennen?
Der einzige Trend ist die Qualität der Arbeit selbst. Wir haben einfach versucht, aus den Filmen, die in den letzten Jahren in Portugal gedreht wurden, diejenigen auszuwählen, die für das Berliner Publikum interessant sein könnten, ohne uns an einem bestimmten Thema festzuhalten. Nebenbei bemerkt: Das Überraschendste am Endergebnis war die Feststellung, dass mehr als die Hälfte der Filme von Regisseurinnen gedreht wurden, was bedeutet, dass es den Frauen in Portugal bereits gelungen ist, de facto eine gleichberechtigte Position in der Welt des Kinos zu erobern. Das ist eine Entdeckung, die uns sehr glücklich macht.
Einige Themen wiederholen sich, werden aber in den einzelnen Filmen unterschiedlich behandelt. Dies ist der Fall beim Thema „Migration“, welches im Film „Menina“ durch die noch sehr unschuldigen Augen eines zehnjährigen Mädchens betrachtet wird, während „Listen“ die dramatischen Folgen von Kommunikationsproblemen zeigt. „No Táxi do Jack/Jack’s Ride“ handelt von den Schwierigkeiten, in das Herkunftsland zurückzukehren; Und „O Fim do Mundo/The End of the World“, welches eine Gemeinschaft von Menschen mit kapverdischer Migrationsgeschichte im Raum Lissabon zeigt, thematisiert die Frage, Teil des Landes zu werden, in dem man geboren wurde. Der Kampf der Frauen – und die Notwendigkeit dazu – ist ebenfalls ein Thema, welches anhand von zwei historischen Fällen gezeigt wird. In „Bem Bom“ wird über eine der ersten Girl Bands in Europa gesprochen und in „Ordem Moral/Moral Order“ verkörpert die hervorragende Maria de Medeiros die Erbin einer Zeitung, deren Ehemann 1918 sie zwangsweise in eine psychiatrische Klinik einweist, um das Unternehmen zu übernehmen. In mehreren Filmen spielt die Musik eine zentrale Rolle; Andere Filme versuchen, ein ländliches Portugal zu dokumentieren, das im Begriff ist, zu verschwinden.
Kurz gesagt: Wir haben uns auf die Qualität der aktuellen Filme konzentriert und das Ergebnis ist eine Vielfalt von Themen, wie auch eine Vielfalt von Herangehensweisen an ein und dasselbe Thema.
Ein Highlight im Programm ist sicher „Listen“ von Ana Rocha, der beim 77. Filmfestival Venedig u.a. als bester Debütfilm und mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Worin besteht die Stärke des Werkes?
„Listen“ lenkt unseren Blick auf die Tragödien, die die starre Auslegung der Gesetze eines fürsorglichen Staates im Leben von Menschen verursachen kann – insbesondere in Fällen, in denen die Kommunikation durch die schlechte Beherrschung der Landessprache erschwert wird. Dies passiert einer portugiesischen Familie in England, aber das ist ein Thema, das leider universell ist. Die Regisseurin, die aus der Schule von Ken Loach und Mike Leigh (bei dem sie studiert hat) stammt, hat sich bemüht, diese Geschichte mit einer gewissen Zurückhaltung zu behandeln, damit der Film nicht so brutal wird, wie die Realität, die ihn inspiriert. Zusätzlich zur Bedeutung des Themas und der filmischen Kunstfertigkeit haben wir in „Listen“ die hervorragende Arbeit von Lúcia Moniz, die wir bereits aus „Tatsächlich… Liebe“ kennen.
Musik und insbesondere Fado, mehr Gefühl als „nur“ Musik, sind sicherlich für viele erste Assoziationen zu Portugal. Was findet sich dazu in der 2022er Ausgabe?
Musik wird bei dieser Ausgabe der Portuguese Cinema Days in Berlin ganz großgeschrieben. In der Tat gibt es einen Film über Menschen aus Porto, die sich in Bars treffen, um Fado zu singen und über die Bedeutung, die diese Tradition in ihrem Leben hat. Am gleichen Filmabend reisen wir auf die andere Seite des Atlantiks, mit dem Film „Paraíso/Paradise“ um alte MusikantInnen und SängerInnen aus Rio de Janeiro zu zeigen, die sich oft in einem Park zum gemeinsamen Singen treffen. Ein Hauch von Buena Vista Social Club, aber auf eine sehr brasilianische Art. Genauer gesagt: sie treffen sich nicht, sondern haben sich früher getroffen. Denn die Dreharbeiten wurden durch die Covid-Pandemie unterbrochen und viele von den KünstlerInnen fielen dem Virus zum Opfer, sodass dieser Film, der ein traditionelles und harmonisches Rio de Janeiro zeigen sollte, einen tragischen Ausgang nahm und zu einer bewegenden Hommage an die Opfer wurde.
Im Bereich Musik ist das noch nicht alles: Der Eröffnungsfilm „Bem Bom“ erzählt die Geschichte einer Girl Band und ihres Kampfes um die Anerkennung ihrer Rechte. Alle Lieder des Films – die viele PortugiesInnen jeden Alters auswendig können – werden von den Schauspielerinnen gesungen. Und das portugiesische Publikum wird sicherlich den Impuls haben, mitzusingen.
Und dann gibt es noch „Fogo Fátuo/Will-o´-the-Wisp“ (auf Deutsch: „Irrlicht“), eine musikalische Liebeskomödie.
Das Festival läuft bis Anfang Dezember. Welchen Film bzw. welchen Termin sollte niemand verpassen?
Ehrlich gesagt: Alle. Aber es gibt vier Filme, die aus unterschiedlichen Gründen hervorstechen.
„Rua dos Anjos/Rising Sun Blues“, ein vierhändiges Werk, in dem eine Regisseurin und eine Sexarbeiterin sich gegenseitig ihr Handwerk beibringen, ist einer jener Filme, die uns berühren, bewegen und noch lange nach dem Sehen in uns nachwirken. Ein seltenes Juwel, das ich jedem empfehle.
„O Movimento das Coisas/The Movement of Things“ führt uns in ein Portugal, das es fast nicht mehr gibt. Der Film, der zwischen 1979 und 1984 in einem Dorf im Norden des Landes mit viel Feingefühl gedreht wurde, ist erst jetzt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Endlich! Und ein Glücksfall für uns. Weil er gleichzeitig das Ende einer Ära festhält und ein sehr gutes Beispiel dafür ist, wie man diese Art von Aufzeichnungen in ein Stück Filmkunst verwandeln kann.
„Fogo Fátuo/Will-o‘-the-Wisp“ ist ein Film, der in keine Kategorie passt: musikalisch, romantisch, politisch- und sozialkritisch, queer, sehr unterhaltsam. Die Geschichte eines Prinzen in einer Republik, der seinem Land dienen will, indem er Waldbrände bekämpft, und sich – wie jeder Märchenprinz – verliebt …in seinen Ausbilder.
„Diários de Otsoga/The Tsugua Diaries“: Für Diejenigen, die das Werk von Miguel Gomes kennen, ist dieser Film, der zusammen mit Maureen Fazendeiro entstanden ist, eine gute Gelegenheit, zu diesem Autor zurückzukehren und seinen Stil neu zu entdecken. Für Diejenigen, die ihn nicht kennen, ist es eine gute Gelegenheit, in dieses Universum der kinematografischen Freiheit einzutauchen, in dem sich die Fiktion und ihr Entstehungsprozess zu einem Film vermischen, der ein reines Vergnügen ist.
Was passiert im Rahmenprogramm des Festivals? Erwartet ihr Gäste?
Nach der Pandemie, die die Präsenz der FilmemacherInnen in den Kinos stark erschwert hat, ist es erfreulich, dass die RegisseurInnen der jeweiligen Filme an sechs der Veranstaltungen teilnehmen können. Unter anderem ist es uns gelungen, João Pedro Rodrigues für einen Besuch in Berlin zu gewinnen, um mit unserem Publikum über seinen Film „Fogo Fátuo/Will-o‘-the-Wisp“ zu sprechen, der derzeit in aller Welt gezeigt wird. Auch Renata Ferraz („Rua dos Anjos/Rising Sun Blues“) macht zwischen verschiedenen Festivals hier Halt. Für die deutsche Regisseurin Sophia-Zoe Spiegel, die ihren Film über Fado vorstellen wird, ist die Reise nicht so lang. Andere kommen aus Lissabon, Porto oder Paris, um mit dem Berliner Publikum zu sprechen.
Last but not least: Bei einem portugiesischen Festival darf das Feierliche nie fehlen. Die Gespräche mit den RegisseurInnen finden nicht nur in der Q&A-Session nach dem Film statt, sondern auch in der Lounge des Kinos, in einer entspannten Atmosphäre, mit einem Glas Portwein in der Hand.
Die Fragen stellte Denis Demmerle.
Die Portuguese Cinema Days finden von 5. November bis 6. Dezember im Kino Moviemento in Kreuzberg statt.