Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine
Komm und sieh
Im Februar 2023 hat sich der Krieg in der Ukraine gejährt. Zeitgleich fanden die Internationalen Filmfestspiele Berlin statt und haben mit Solidaritätsbekundungen und Podiumsdiskussionen politisch Stellung zu diesem militärischen Konflikt bezogen, wie auch zu den Protesten gegen das Regime im Iran. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm an der Festivaleröffnung per Videoschaltung teil und der Schauspieler Sean Penn sollte dem Eröffnungswochenende mit seinem Selenskyj-Porträt SUPERPOWER (in Co-Regie mit Aaron Kaufman) offensichtlich etwas Starpower verleihen, was in der Presse durchaus zwiespältig aufgenommen wurde: „Der Hauptdarsteller von „Superpower“ ist nicht Wolodomyr Selenskyj, es ist auch nicht das Volk der Ukraine – es ist allein Sean Penn“, lautete das Fazit der Deutschen Welle. „“Superpower“ ist auch eine teils unangenehme Heldenerzählung, für die Selenskyj nichts kann“, merkte die Berliner Zeitung an. Der große mediale Aufhänger von SUPERPOWER war, dass Penn für seinen Film zufälligerweise am 24. Februar 2022 – dem Tag des Kriegsbeginns – einen Interviewtermin mit Selenskyj vereinbart hatte und mit diesem in einem Bunker sprach, während in Kiew die ersten Raketen einschlugen.
Der bewaffnete Ukraine-Konflikt hatte jedoch bereits weitaus früher begonnen, als Russland in Folge der Euromaidan-Proteste im Jahr 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und pro-russische Separatisten die Gebiete Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine besetzten. Vor allem durch den Abschuss eines Passagierflugzeugs über Donezk wurden diese Vorgänge damals der internationalen Öffentlichkeit bekannt. In diesem Rückblick auf das Programm der 73. Berlinale werden sektionsübergreifend fünf bemerkenswerte Werke vorgestellt, die sich direkt oder indirekt mit den Ursachen, Folgen und dem Verlauf des Krieges auseinandergesetzt haben. Keinem von ihnen wurde die Aufmerksamkeit zuteil, die SUPERPOWER für sich beanspruchen konnte. Doch gerade wegen ihrer differenzierten Aufarbeitungsversuche in Form von Dokumentationen oder künstlerischen Auseinandersetzungen können sie neue Blickwinkel auf die Hintergründe des Konflikts eröffnen. Gemeinsam ist diesen fünf Filmen dabei, dass sie das Gezeigte nicht direkt kommentieren, sondern den Zuschauer*innen die Aufgabe einer politischen, gesellschaftlichen oder emotionalen Einordnung übertragen.
In der Sektion Encounters folgte SHIDNIY FRONT (EASTERN FRONT) dem Filmschaffenden Yevhen Titarenko, der sich am 24. Februar 2022 dem freiwilligen Sanitätsbataillons der „Hospitaliter“ angeschlossen hatte. Zusammen mit dem Regisseur Vitaly Mansky dokumentiert er darin die dramatischen Einsätze, bei denen verletzte Soldaten an der östlichen Frontlinie der Ukraine evakuiert werden. Die unmittelbaren Eindrücke des Geschehens werden in einer POV-Perspektive eingefangen und liefern Bilder aus dem ersten halben Jahr des Krieges, die in der medialen Berichterstattung so nur selten zu sehen waren. Die Helfer laufen durch verlassene russische Schützengräben, fahren mit schwer verletzten Soldaten durch ein Labyrinth aus Straßenblockaden und Militärposten zum nächstgelegenen Krankenhaus und versuchen, sterbende Menschen zu reanimieren. „Das sieht aus, wie im Zweiten Weltkrieg“, kommentiert einer der Freiwilligen die Szenerie eines zerstörten Plattenbaus. Diesen ungeschönten Einblicken setzt der Film die Versuche eines normalen Lebens entgegen. Außerhalb ihrer Einsätze sind die Kollegen in einem Dorf im Westen der Ukraine zu Besuch, um an einer Tauffeier teilzunehmen. Sie treffen sich mit ihren Familien oder gehen an einem Badesee schwimmen. Doch im nächsten Augenblick befinden sie sich schon wieder im Kreuzfeuer an der Front, inmitten des Kriegschaos, um unter Einsatz ihres Lebens zu retten, was noch zu retten ist. SHIDNIY FRONT ist ein schockierendes Dokument, welches verdeutlicht, dass es bei dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine um keine theoretische politische oder territoriale Fragestellung geht, sondern um eine Realität, die Menschenleben fordert.
W UKRAINIE (IN UKRAINE) von Piotr Pawlus und Tomasz Wolski hat eine vergleichsweise distanzierte Beobachterperspektive eröffnet. In statischen Bildkompositionen im Scope-Format werden die Konsequenzen dargestellt, die der Krieg gefordert hat. Zerstörte russische Panzer stehen im Stadtbild und dienen als Fotomotive, Motorboote helfen an gesprengten Brücken als Fähren aus, ehemalige Haushunde haben sich in evakuierten Dörfern zu Rudeln zusammengeschlossen. Die verbleibenden Einwohner*innen versuchen weiterhin, ihrem täglichen Lebensablauf nachzugehen. Kinder schaukeln auf einem Spielplatz vor einem zerstörten Wohnblock, an einer Haltestelle mit Einschusslöchern warten Menschen auf einen Bus. Doch der Anschein einer seltsamen neuen Normalität trügt. Im Hintergrund sind plötzlich Detonationen zu hören und die Menschen fliehen in eine U-Bahnstation, die als Bunker dient. Die polnisch-deutsche Co-Produktion, die in der Sektion Forum gezeigt wurde, untersucht das Geschehen von außen. Statt eine emotionale Anteilnahme durch die Fokussierung auf einzelne Schicksale anzustreben, werden die sichtbaren Auswirkungen porträtiert, welche die Kampfhandlungen auf das Stadtbild und die Infrastruktur hinterlassen haben. Gerade diese formalen Reduziertheit auf die Vernichtung der Alltäglichkeit funktioniert in W UKRAINIE so effektiv.
MY NE ZGASNEMO (WE WILL NOT FADE AWAY) von Alisa Kovalenko in der Sektion Generation wählt einen anderen Blickwinkel auf die Zivilbevölkerung. Zwischen 2019 und 2022 gedreht, folgt der Dokumentarfilm fünf Jugendlichen, die am Rande der separatistischen „Volksrepubliken“ von Luhansk und Donbas aufwachsen. Die verlassene Bergbauregion kann ihnen keine Zukunftsperspektiven bieten. Nach den militärischen Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahre scheint eine Eskalation des Konflikts hier nur eine Frage der Zeit zu sein. So vertreiben sie sich die Zeit mit der Reparatur von Motorrädern, der Malerei, Musikaufnahmen oder fotografieren die zerstörten Gebäude. Hoffnung gibt ihnen die Aussicht auf Teilnahme an einer Jugendreise in den Himalaya. MY NE ZGASNEMO wirkt sehr fragmentarisch, ist aber vor allem in den Momenten stark in Szene gesetzt, in denen die Teenager ihren Wünschen und Träumen nacheifern. Genau dann erscheint das Leben in der Provinz und das Verlangen, endlich ausbrechen zu wollen, so universell. Doch die Sperrzonen, Minenfelder und Militärfahrzeuge in ihrem Umfeld zeugen davon, dass sie ihre Lebenswege nicht frei wählen können. Gerade mit dem Beginn des Krieges nach ihrer Rückkehr aus dem Himalaya, durch den das Filmteam den Kontakt zu einigen von ihnen verloren hat, wird das Werk zu einem bedrückenden persönlichen Porträt über ihre Leben in diesem Krisengebiet.
Mit IRON BUTTERFLIES hat der Regisseur Roman Liubyi den Versuch einer minutiösen Rekonstruierung der Hintergründe des Flugzeugabschusses über Donezk am 17. Juli 2014 unternommen. Der Flug MH17 von Malaysia Airlines mit 298 Passagieren an Bord befand sich auf dem Weg von Amsterdam to Kuala Lumpur, als dieser von einem Lenkwaffensystem der russischen Separatisten getroffen wurde und abstürzte. In einer Found Footage-Collage werden Nachrichtenbeiträge, Interviews, militärische Aufzeichnungen, wissenschaftliche Untersuchungen, russische Propagandakampagnen und zahlreichen private Social Media-Aufnahmen gegenübergestellt. Ergänzt wird diese akribische Aufarbeitung, die im Programm der Sektion Panorama lief, durch künstlerische Musik- und Performanceprojekte, die jedoch eher von dem hochinteressanten Quellenmaterial ablenken, anstatt diesem eine weitere Bedeutungsebene hinzuzufügen. Dennoch gelingt es IRON BUTTERFLIES, die Zusammenhänge der Vorgänge und die haarsträubende Funktionsweise des russischen Propagandaapparats herauszuarbeiten, ohne eine absolute Wahrheit für sich beanspruchen zu wollen.
Der Krieg in der Ukraine hat weitreichende Folgen für die ukrainische Kulturindustrie. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle noch der fiktionale Spielfilm TY MENE LUBYSH? (DO YOU LOVE ME?) von Tonia Noyabrova erwähnt werden, auch wenn dieser inhaltlich in keinem direkten Bezug zur Gegenwart steht. Darin wächst die 17-jährige Kira (Karyna Khymchuk) in den 90er Jahren, kurz vor dem Verfall der Sowjetunion, in einem wohlhabenden Elternhaus auf. Sie will Schauspielerin werden und versucht auf starke und selbstbewusste, aber auch verletzliche Weise, ihren eigenen Lebensweg zu finden. Doch als die Ehe ihrer Eltern auseinanderbricht, sieht sie sich plötzlich mit der tristen Lebensrealität des Systemumbruchs konfrontiert. Mit einer lebhaften und temporeichen Inszenierung, die TY MENE LUBYSH? zu einem herausragenden Beitrag in der diesjährigen Sektion Panorama gemacht hat, werden Parallelen zwischen dem Zusammenbruch des politischen Systems und dem fragilen persönlichen Lebensumfeld der Protagonistin gezogen. Die Dreharbeiten wurden im Februar 2022, kurz vor Beginn des Krieges, abgeschlossen. Vielleicht wirkt die offene Zukunft, der die Protagonistin entgegenblickt, gerade deshalb sowohl hoffnungsvoll als auch bedrohlich.
Henning Koch