Zum 60. Jubiläum: Interview mit der künstlerischen Leiterin des Arsenals


Stefanie Schulte Strathaus © Dietmar Gust für Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V.

Das Arsenal – Institut für Film und Videokunst feiert dieses Jahr sein 60. Jubiläum. Anlässlich der Jubiläumsfeier am 7. Juni 2023 hat der Berliner Filmfestivals-Autor Henning Koch mit der künstlerischen Leiterin des 1963 gegründeten Vereins Stefanie Schulte Strathaus über die Zukunftsperspektiven des Filmarchivs und -verleihs, sowie den für 2025 geplanten Umzug des Arsenal Kinos vom Potsdamer Platz in das Silent Green Kulturquartier in Berlin-Wedding gesprochen.

Berliner Filmfestivals: Die Medienlandschaft hat sich seit 1963 grundlegend verändert. Welche Perspektiven und welche Notwendigkeit messen Sie Kinoräumen an sich in der Gegenwart bei?

Stefanie Schulte Strathaus: Ich glaube, dass Kino vor allem wieder herausgefordert wird, sich selbst zu finden. Wir feiern das Jubiläum jetzt nicht nur zu einem Zeitpunkt, an dem wir bald umziehen werden und – man kann es auch metaphorisch verstehen – ein in jeder Hinsicht neues Kino bauen werden. Sondern wir befinden uns auch in einer wirklichen Krisenzeit, nach der Pandemieerfahrung, mit Krieg und Energiekrise und finanziellen Zwängen, die so noch vor wenigen Jahren nicht absehbar waren. Das ist eine große Herausforderung, die uns dazu zwingt, uns zu fragen: „Was kann Kino?“ Diese Formulierung wird auch die Überschrift zu einer Vortragsreihe sein, die ich gemeinsam mit Birgit Kohler plane. Dadurch, dass man nicht fragt, was Kino ist, sondern was es kann, wird es gewissermaßen zu einem Handlungsraum, vielleicht sogar zu einem Akteur. Es geht darum, Kino als einen Ort wiederzuentdecken, an dem ein gesellschaftlicher Diskurs stattfindet, der das Kino und die Bilder in ein Verhältnis zur Gegenwart setzt. Wir wissen nicht genau, wie das Kino der Zukunft aussehen kann. Aber wir teilen alle das Interesse, es herauszufinden, indem wir das Gegenwartskino und die Filmgeschichte als einen gemeinsamen Möglichkeitsraum betrachten.

Wie lassen sich neue Bedeutungsebenen in diesen Dialog zwischen der Filmgeschichte und der Gegenwart einbringen?

StSS: Seit wir das Filmarchiv im Silent Green Kulturquartier haben, gab es dort auch sehr viele Besucher*innen. Da ist mir häufig die Frage gestellt worden, warum wir uns denn so viel Mühe mit den ganzen analogen Filmen machen. Ich bin dann immer wieder überrascht, dass viele wirklich glauben, die ganze Filmgeschichte stehe digital zur Verfügung. Das ist allerdings bei weitem nicht so. Ein großer Teil ist noch lange nicht verfügbar. Das betrifft vor allem die vielen Filme, die überall auf der Welt verstreut liegen. Dadurch, dass wir ein internationales Archiv sind und viele Unikate haben, sind wir weltweit mit verschiedenen Orten in Kontakt gekommen, die uns auf Filme aufmerksam gemacht haben, die in anderen Archiven liegen und noch nicht erschlossen sind. Es entstehen neue Berührungspunkte. Wir haben beispielsweise die Filme der ägyptischen Dokumentarfilmerin Atteyat Al Abnoudy gemeinsam im Arsenal gesichtet, inklusive Aufnahmen, die bei ihren Dreharbeiten entstanden sind. Auf einmal rief die Regisseurin Claudia von Alemann aus dem Publikum: „Die Kamerafrau kenne ich! Das war auch die Kamerafrau bei Helke Sander!“ Und plötzlich fragt man sich: Warum kannten die sich in den frühen 70er Jahren in Ägypten und in Deutschland? Warum gab es diese Verbindung? Es stellte sich heraus, dass es ein feministisches Netzwerk gab. Solche Dinge passieren in Archiven. Man stolpert permanent über Geschichten, von denen man noch nichts wusste.

Damit haben Sie bereits einen wichtigen Punkt angesprochen, nämlich dass das Arsenal gesellschaftlichen Wandel und gesellschaftspolitische Problemfelder aufgreifen will. Wie sollen die Möglichkeiten des Filmmediums und des Filmarchivs dafür genutzt werden?

StSS: Da gibt es keine einzelne Antwort. Jeder Film, den man entdeckt, ist eine Inspirationsquelle für neue Möglichkeiten, genau das zu tun. Eines unserer Jubiläumsprojekte ist das Programm „Film als Ressource“. Wir haben sehr viele Filme in unserer Sammlung, die zwischen den 70er und 90er Jahren entstanden sind und sich all diesen Themen widmen, die uns jetzt so sehr beschäftigen: dem Klimawandel, der Atomenergie, dem Landraub und der Zerstörung der Biosphäre. Und trotzdem sind wir heute da, wo wir sind. Da kommt die naheliegende Frage auf: Was konnten diese Filme denn ausrichten, oder warum konnten sie nur so wenig ausrichten? Da sind wir wieder bei der Frage: Was kann Kino? Es geht darum, die Filme wieder mit der Welt in Verbindung zu bringen.

Um die Fragestellung an einem konkreten Beispiel zu untersuchen: Die bekannte Andrej Tarkowskij-Retrospektive war im vergangenen Jahr ausgefallen und wird 2023 wieder stattfinden und dabei in einen neuen Kontext des ukrainischen Films gesetzt. Wie soll mit derartigen Filmen in der aktuellen politischen Situation umgegangen werden?

StSS: Wir haben sehr lange, also auch schon vor Ausbruch des Krieges, immer wieder darüber diskutiert, ob und wie es mit der Tarkowskij-Retrospektive weitergehen soll. Die ist ja schon ein eigenartiges Phänomen. Seit 40 Jahren steht sie im Raum und jeder Versuch, den wir gestartet haben, um sie kleiner zu machen, hat sofort Proteste ausgelöst. Sie ist unfassbar beliebt. Was uns aber zunehmend beschäftigt hat war, dass wir eigentlich eine Position vertreten, die besagt: Eine Retrospektive kann nicht 40 Jahre lang das Gleiche sein und auch nicht auf die gleiche Art funktionieren. Es kann nicht darauf reduziert werden, dass man einfach alle verfügbaren Kopien der Tarkowskij-Filme zeigt. Das ist kein Kuratieren. Die Filme müssen wieder etwas auslösen, etwas verändern. Nun war in diesem Jahr, nachdem der Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen hat, die Situation so, dass wir das mit in den Blick nehmen mussten. Wir haben Barbara Wurm mit ins Boot geholt, die sich mit dem ukrainischen und russischen Kino sehr gut auskennt und dafür hervorragend geeignet ist. Wir sind gespannt darauf, das Ganze im Licht des ukrainischen Kinos zu thematisieren. Das wird sicherlich ein Programm, das zum jetzigen Zeitpunkt sehr viel Sinn macht, aber eine Tarkowskij-Retrospektive wird sich eben auch in Zukunft weiterentwickeln müssen.

60. Jubiläumsfeier des Arsenals am 7. Juni 2023 im Silent Green Kulturquartier © Valie Djordjevic für Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V.

Mit dem geplanten Umzug des Arsenal Kinos in das Silent Green Kulturquartier wäre es das erste Mal, dass das Filmarchiv, das Kino und die Verwaltung vollständig an einem Ort vereint sind. Welche Möglichkeiten gehen daraus hervor und welche Aspekte sollen weiter ausgebaut werden?

StSS: In der Tat ist es so, dass wir zum allerersten Mal alles so nah beieinander haben werden. Worauf ich mich dabei als Erstes freue ist, dass alle Mitarbeiter*innen dadurch viel näher beieinander sind. Die Festivals, das Kino, der Verleih und das Archiv sind für uns keine verschiedenen Abteilungen, die für sich operieren. Das sehen wir eher ganzheitlich. Um es einmal sehr einfach zusammenzufassen: Ein Film, der einmal im Forum gelaufen ist, kann dann zum Beispiel bei uns in den Verleih kommen, ein paar Jahre später sind dann drei Filme des Regisseurs bei uns im Archiv und noch ein paar Jahre später werden sie restauriert. Solche Fälle gibt es. Das heißt, wir können sehr langfristige, nachhaltige Beziehungen mit den Filmemacher*innen aufbauen. Das gibt dann auch immer wieder neue Perspektiven auf das Werk. Ich freue mich sehr darauf, dass wir den Austausch unter einem Dach organischer gestalten können. Dass wir auf einer sehr viel praktischeren Ebene das Verhältnis von Geschichte, Gegenwart und Zukunft denken und damit experimentieren können.

Bereits vor der Corona-Pandemie wurde die Onlineplattform Arsenal 3 ins Leben gerufen und war während des Lockdowns zeitweilig die einzige Möglichkeit für einen Zugang zum Arsenal-Programm. Gibt es Pläne, dieses Angebot zu erweitern?

StSS: Wir haben da wirklich vieles ausprobiert. Wir hatten das Arsenal 3 ein halbes Jahr vor der Pandemie als Experimentierfeld begonnen, um zu gucken, was man mit so einer digitalen Plattform alles machen kann. Der Vorteil war, dass wir es technisch schon aufgebaut hatten, als der Lockdown kam und innerhalb von einer Woche loslegen konnten. Es hat uns sehr geholfen, was die Kontaktpflege mit den Filmemacher*innen betrifft, die sofort zugesagt haben, dass wir ihre Filme dort zeigen können. Später, als die Kinos wieder geöffnet haben, mussten wir uns natürlich Gedanken machen, welche neue Bedeutung es kriegen soll. Die erste Idee haben wir Fußnotenkino genannt, also ein programmbegleitendes Kino, um Dinge zu vertiefen und zu erweitern, die im Kinosaal stattfinden. Man muss zugeben, dass es nicht so gut funktioniert hat, weil sehr viele damals einfach übersättigt waren von Online-Angeboten. Dann haben wir aber gleichzeitig gemerkt, dass die ganzen digitalen Restaurierungen, die wir parallel in den letzten Jahren erstellt haben, international auf ein wachsendes Interesse stoßen. Wir haben uns dann überlegt, eine Art Online-Bibliothek für die von uns digitalisierten Filme einzurichten und organisieren das programmbegleitende Kino wirklich nur noch dann, wenn es Bedarf gibt und es sich aus einer kuratorischen Arbeit heraus anbietet.

Gab es besondere Filme im Programm des Arsenals, die Sie persönlich beeindruckt haben und die Sie gerne weitergeben möchten?

StSS: Was mir dazu spontan in den Kopf kommt, ist DE CIERTA MANERA (1974) von Sara Gómez. Ein kubanischer Film, den ich wirklich für einen der größten Filme halte, die ich kenne. Das war für mich wirklich eine wahnsinnige Entdeckung, weil es ein Film ist, der seinerzeit auf eine ganz neue Art das Dokumentarische und das Fiktionale aus einer feministischen Perspektive zusammengedacht hat. Es war für mich die wichtigste Entdeckung bisher, aber es gibt viele, viele weitere kleine Entdeckungen und Überraschungen. Ich bin seit über 30 Jahren dabei und als ich damals anfing, habe ich immer wieder gedacht: Mittlerweile habe ich doch einen groben Überblick, was da liegt. Aber es hört einfach nicht auf, dass ich immer wieder Dinge zum allerersten Mal entdecke. Es nimmt kein Ende, und das ist großartig.

Das Interview führte Henning Koch