74. Berlinale: Bärendienst
Die 74. Berlinale, es war die letzte Ausgabe des Führungsduos Carlo Chatrian & Mariette Rissenbeek, sie ist weitgehend gescheitert – und das auf vielen Ebenen.
Gescheitert in seinem Kerngeschäft als Filmfestival. Sie versagt in dieser 74. Runde als Dienerin der Werke, denn diesen und deren Filmemacher_innen sollte ein Filmfest, gerade ein A-Festival, den Roten Teppich ausrollen.
Dass seit der Preisverleihung (hier in der 3sat-Mediathek) kaum jemand über die dort ausgezeichneten Werken spricht, sondern über die dort geäußerten Meinungen, dafür sind in erster Linie die Personen, die diese kund tun selbst verantwortlich. Damit ist nicht die Forderung nach Waffenstillstand, die übrigens beide Seiten anspricht, oder eine humanitäre Feuerpause gemeint. Aber: Wer sich als Antisemit offenbart, muss damit umgehen, wie ein Antisemit – oder wahlweise auch als Rassist oder islamophob – behandelt zu werden. Die Berlinale und ihre Repräsentant_innen an diesem denkwürdigen Abend, müssen sich Vorwürfe gefallen lassen, nicht laut widersprochen zu haben, nicht aufgestanden zu sein, nicht für Ausgleich gesorgt und nicht gegen die Einseitigkeit anmoderiert zu haben.
Das gilt im übrigen auch für das Publikum des Abends, das die Gelegenheit des lauten (Gegenrede, Buh-Rufe, usw usf) und leisen (Abstimmung mit den Füßen, man kann auch einfach mal gehen) Protests verpasste. Insbesondere am Samstag im Berlinale Palast anwesende gewählte Volksvertreter_innen wie Berlins Bürgermeister Kai Wegner dürfen sich hier angesprochen fühlen – und sollten im Nachklang nicht munter auf das Festival draufhauen.
Immerhin hat das Festival am Abend des 26. Februar ein Statement herausgegeben, in dem Mariëtte Rissenbeek, die schon zu Beginn der Preisverleihung an den Überfall der Terroristen der Hamas am 7. Oktober erinnerte, mit diesen Worten zitiert wird: „Die Berlinale steht für Demokratie und Offenheit. Wir stellen uns explizit gegen Diskriminierung und jeglichen Hass. Wir möchten uns mit anderen gesellschaftlichen und politischen Institutionen austauschen, wie man bei diesem extrem kontroversen Thema einen gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland – unter Hinzuziehung internationaler Perspektiven – führen kann, ohne dass einzelne Stellungsnahmen als antisemitisch oder als antipalästinensisch wahrgenommen werden. Wir müssen uns diesem kontroversen Thema stellen – als internationales Filmfestival wie auch insgesamt als Gesellschaft.“
Jedenfalls ist die 74. Ausgabe des Festivals spätestens mit der Gala auch in seinem Anspruch ein politisches Filmfestival zu sein, womit man sich im Selbstverständnis von den anderen großen A-Festivals in Venedig und Cannes absetzt, nicht gerecht geworden, geradezu daran gescheitert! Die Zeit der Polykrise ist anstrengend und oft (über-)fordernd, daher bringt sie eben auch hohe Anforderungen mit sich, will man den eigenen Ansprüchen gerecht werden. Es ist wichtig und richtig, sich mit dem iranischen Regie-Duo Maryam Moghaddam & Behtash Sanaeeha zu solidarisieren, dem die iranische Regierung die Ausreise verweigert hat. Aber das reicht in diesem Jahr eben nicht. Die Berlinale will Raum geben für Meinungsvielfalt und Austausch, aber das geht nur, wenn man diesen Raum auch pflegt, an den richtigen Stellen moderiert und dafür Sorge trägt, dass nicht nur die laute oder die vorherrschende Meinung gehört wird, sondern jede. Dabei müssen Positionen ausgehalten werden, die man nicht teilt, aber keine die zb gegen unsere freiheitliche Grundordnung oder das Grundgesetz verstoßen. Das TinyHouse-Projekt hat dafür offensichtlich nicht ausgereicht. Mit dem Rumgeeiere wegen der ein- und wieder ausgeladenen Anti-Demokraten von der AFD nahm dieses Drama schon vor Festivalbeginn seinen Lauf. Es wurde leider nur kurz, aber nicht entscheidend besser, wenn man auf das blickt, was bleibt.
Die Kultur, sie ist oft die letzte Brücke, um miteinander ins Gespräch und in den Austausch zu kommen. Gerade Film lässt uns in andere, unbekannte und fremde Lebenswelten eintauchen und diese so besser verstehen. Diese Brücke ist ein wichtiges Gut, das sollte man schützen und bewahren, wenn man als ein „Politisches Filmfestival“ nicht nur apostrophiert werden will. Heute wirken die Worte, mit denen der große Martin Scorsese die Frage von Chatrian, was die Aufgabe eines Filmfestivals sei, dröhnend nach. Scorsese blickte in versammelte Presserunde und sagte:
„Filmfestivals haben die Möglichkeit, die Welt mit verschiedenen Standpunkten vertraut zu machen. Die Welt rückt dadurch enger zusammen. Weil Menschen mehr über Menschen und andere Kultur erfahren.„
Auch die zweite wichtige Grundfeste, mit der sich die Berlinale gegenüber Cannes und Venedig abgrenzt, sie wackelt gewaltig. Publikumsfilmfestival will man sein, also dieser tollen Kinostadt Berlin und all seinen Besucher_innen, die von nah und fern anreisen, an diesen elf Tagen besonderes Kino bieten. Doch die Berlinale behandelt sein Publikum immer schlechter. Gab es absurd lange Jahre keine und erst nur ein gewisses Kontingent an Karten im Onlineticketing, wurde das im letzten Jahr und als Teil des Corona-Digitalisierungsschubs umgekehrt, auf „Online-Only“. Damit schließt das Festival all die Menschen aus, die nicht mit dem Internet umgehen können oder wollen und auch alle die, die kein Eventim-Konto anlegen wollen. Die Lösung ist so einfach. Wieso kann zum Beispiel der Stand mit Merchandise-Artikel in „The Playce“ nicht beides? Und überhaupt: Wäre es nicht viel kundenfreundlicher mit Bekanntgabe des Programms dem Publikum einfach alle Tickets in den Verkauf zu geben? Was soll diese künstliche Verknappung und Intervallierung? Zeit für das Kino muss eingeplant werden können – gerade, wenn Filme mitten am (Arbeits-)Tag laufen.
Dass akkreditierte Menschen, also solche, die sich beruflich und nicht ausschließlich zum Vergnügen auf der Berlinale bewegen, die dafür übrigens auch gutes Geld in Form von Akkreditierungsgebühren bezahlen und dem Festival nützlich sind, sich erst zeitversetzt, nämlich einen Tag später als das Publikum, noch um die Resttickets bemühen dürfen, ist eine weitere Nervigkeit, die ebenso erwähnt sei wie die willkürliche Zumutung, selbiges um 7.30 Uhr am Morgen tun zu müssen.
Kino kostet, Film kostet, Filmfestivals kosten… und das ist gut und richtig so. All das hat auch einen Wert. Aber: Wieso kosten die Berlinale-Tickets eigentlich deutlich mehr als bei jedem anderen der übrigens häufig großartigen kleinen Filmfeste oder dem ganz normalen Kinobesuch? Dieses mit Steuergeldern hochsubventionierte Filmevent schließt Menschen über den Preis des Einzeltickets aus. Es braucht keine Gratis-Kultur oder Kultur für alle, aber es braucht Möglichkeiten, dieses Kino breiteren Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen. Ermäßigungen für unterschiedliche Gruppen sind ein Vorschlag, Events wie das riesige Openair-Kino – ja, das gab es einige Jahre und ja, das hat auch im Winter funktioniert – ein anderer. Es gäbe noch mehr. Es braucht Bewusstsein dafür und einen Willen dazu.
Womit wir beim Programm ankommen: Dass die Berlinale nicht für den ganz großen Glamour und Star-Kino stehen kann, daran haben sich Besucher_innen seit der Oscar-Terminverlegung gewöhnt. Einige kommen dank der Bemühungen des Filmfests dann ja doch und das obwohl der Berliner Winter nicht mit dem Sommer am Mittelmeer konkurrieren kann! Martin Scorsese war da, im letzten Jahr Steven Spielberg. Und doch: Der Zyklus, in dem das Weltkino funktioniert, lässt der Berlinale da kaum Spielraum. Aber für gehobene Qualität auf der Leinwand könnte sie sorgen und dafür sollte sie auch ohne die großen Autor_innen des US-Kinos stehen. Auch nach der „Konzentration“, als die man finanzielle Knappheit gerne umschreibt, des unter Dieter Kosslick doch arg aufgeblähten Programms, findet sich in allen Sektionen reichlich durchschnittliches, langweiliges, manchmal ärgerliches und schlicht einfach ödes Kino. Eine weitere Reduzierung der Filmanzahl (2024 waren etwas mehr als 250 Filme im Programm) müsste ja keine Reduzierung der Filmvorführungen bedeuten, im Gegenteil, man könnte so bessere Werke öfter zeigen.
Denn dass kaum jemand über die Gewinnerfilme des diesjährigen Wettbewerbs spricht, es liegt nicht nur an der verpatzten Gala, sondern auch daran, dass im renommierten Herzstück des Filmfestes, dem Wettbewerb um den Goldenen Bären, einfach kein wirklich herausragendes Werk nominiert war. Zu dessen Verwässerung hat auch die Entscheidung Chatrians beigetragen, mit Encounters einen zweiten Wettbewerb im Programm zu platzieren. Die muss nach fünf Jahren als Fehlentscheidung benannt werden. Encounters haben kein eigenes Profil entwickelt und damit den ohnehin schwächelnden Wettbewerb des Filmfestes nur noch weiter geschwächt.
Die nächsten Tage und Wochen werden darüber entscheiden, wie es mit der Berlinale weitergeht. Steuergeld, gerade welches das für Kultur eingesetzt und so womöglich für eine pluralistische Weltsicht sorgen könnte, sehen einige gerne an anderen Stellen investiert. Gerade die, die nicht zu Eröffnungen eingeladen werden… Sie werden laut sein, ihnen muss noch lauter, aber vor allem mit besseren Argumenten widersprochen werden.
Auf die neue Leiterin Tricia Tuttle kommt eine Menge Arbeit zu. Aber in jedem Scheitern liegt eine Chance. Die Berlinale ist ein großes, ein wichtiges Filmfestival. Das soll so bleiben.
Viel Erfolg und Mut, Tricia Tuttle, Sie sind jetzt gefragt!
Denis Demmerle