1. Dokumentale vom 10. bis 20. Oktober in Berlin


STATE OF SILENCE © La Corriente del Golfo
STATE OF SILENCE ist einer von 10 Wettbewerbsbeiträgen © La Corriente del Golfo

Der Fokus mag nicht rein auf Politik oder Menschenrechten liegen. Dafür gibt es andere Festivals. Aber während internationale Konflikte die Wahrheit und den öffentlichen Austausch stark unter Druck setzen, und selbst hierzulande dunkle Wolken aufziehen, wie wir es an der geplanten Zusammenlegung der Kultursender 3Sat und Arte sehen (was einer Schließung von 3Sat gleichkommt) oder etwa in Thüringen, wo demnächst der Staatsvertrag mit dem MDR auf der Agenda steht und zwar mit der AfD als stärkster Fraktion im Landesparlament – vor dieser aktuellen Kulisse kommt jeder Form von freier Meinungsäußerung eine wichtige Bedeutung zu. Das gilt im Besonderen für den Dokumentarfilm, mithin einem Film- und Medienfestival wie der Dokumentale vom 10. bis 20. Oktober in Berlin.

Die Dokumentale 2024 (kurz: D’24) umfasst rund 120 Screenings und Events. Es werden 50 Filme gezeigt, zehn davon im Wettbewerb, dessen Gewinner 20.000€ mit nach Hause nehmen dürfen (10.000 cash, die anderen 10.000 sollen bei der Auswertung unterstützen); es gibt eine VX-Ausstellung, Sachbuch-Lesungen und eine Podcast-Ausstellung. Neben regulären Filmvorführungen werden sechs Filme in sogenannten d’Lounges gezeigt, also an ungewöhnlichen Locations wie der Berlinischen Galerie oder in Clubs wie dem Tresor oder Kater Blau. In den d’Salons werden Filme im Rahmen von Themenabenden zusammen mit Lesungen und Diskussionen präsentiert.

Dokus beschäftigen sich auch mit den schwierigen, den unbequemen, den non-konformen oder einfach abseitigen Themen des Lebens. Die sehen wir oft nicht in den gängigen Medien oder nur stark vereinfacht behandelt. Es ist ein Glück, dass wir hierzulande (noch) keine russischen Zensurzustände wie in Askold Kurovs OF CARAVAN AND THE DOGS haben. Es dürfen Openair-Partys gefeiert werden, wie sie uns die frühe englische Rave-Szene im Dokumentale-Beitrag FREE PARTY vorgelebt hat. (Obwohl gerade die Berliner Clubszene zuletzt mit Schwund von sich hören macht.) Und wir können den Kapitalismus und die Ausbeutung der Arbeitenden aufs Korn nehmen wie in HARDLY WORKING.

Damit das auch so bleibt, uns der Dokumentarfilm stets vom Sonderlichen und Unbeachteten erzählen kann, dafür braucht es außerdem eine Plattform wie den D-Hub (14.-16. Oktober), bei dem Workshops und Gespräche zu dokumentarischen Erzählweisen auf dem Programm stehen und sich die Branche vernetzen kann.

Wir stellen einige D’24-Filmtipps vor.

OF CARAVAN AND THE DOGS

OF CARAVAN AND THE DOGS © Noveta Gazeta Europe and Anonymous Production
OF CARAVAN AND THE DOGS © Noveta Gazeta Europe and Anonymous Production

Von Askold Kurov, Russland, 2024

Darum geht es:
In seinem jüngsten Film OF CARAVAN AND THE DOGS nimmt Askold Kurov die verschärfte Medienzensur im Vorfeld und während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine in den Blick. Durch seine mit den Protagonisten wohl vertraute Kamera sind wir bei angespannten Redaktionssitzungen dabei, als die neue Gesetzeslage verlesen wird. Wir begleiten die Journalisten der Novaya Gazeta bei ihrer Entscheidung, weiterhin die Begriffe Krieg, Bombardierung und Angriff zu verwenden und sich damit gegen das Berichterstattungs-Diktat des Roskomnadzor, der russischen Medienaufsicht, zu wehren. Wir stehen zwischen den Archivregalen der NGO Memorial, die die Verbrechen der stalinistischen Ära aufarbeitet, während sie als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt wird. Und wir sitzen neben den Mikrofonen des regierungskritischen Radio Echo Moscow bei seiner letzten Sendung.

Was du zu dem Film wissen musst:
Das sind nur die bekanntesten Namen. 130 Programme und etwa 5300 Internetseiten wurden seit Kriegsbeginn abgeschaltet oder geschlossen. Auch Facebook oder Instagram sind nicht mehr zugänglich. Viele der Journalisten werden verhaftet oder fliehen ins Ausland, wo sie wie die Novaya Gazeta Europe oder Radio Echo Moscow mit einem kleinen Team weiterhin berichten. Verfolgung, Repression, Gleichschaltung von Presse, Justiz und Staat – der Dokumentarfilmer Askold Kurov ist ein erfahrener und vielfach ausgezeichneter Chronist des Abstiegs des postkommunistischen Russlands in die Diktatur.

Termine bei der 1. Dokumentale
12.10., 20.30 Uhr, City Kino Wedding
15.10., 18.30 Uhr, Festivalzentrum D’24 (Living Berlin), D’Salon mit Gespräch und Lesung
sowie als VOD im Stream für 5€

FREE PARTY

FREE PARTY © Jess McLean
FREE PARTY © Jess McLean

Aaron Trinder, England, 2024

Darum geht es:
Die Doku über die englische Open Air-Partyszene der 80er und 90er Jahre zeigt, wie die Lust auf Feiern, Musik und Freiheit zwei zuvor komplett unterschiedliche Lager vereint – die aufkommende Rave-Szene und die sogenannten Traveller, vornehmlich in bunt angemalten Trucks und Lieferwagen lebende und reisende Hippies und Nomaden. Gemeinsam basteln sie an wummernden Soundsystemen und veranstalten immer mehr und besser besuchte Openairs, ohne Eintritt zu nehmen. Dabei ist längst nicht alles knallbunter Hedonismus. Dass auch Feiern ein politischer Akt ist, lernte die Szene spätestens mit den ersten staatlichen Einschränkungen und zunehmender Polizeigewalt, die 1985 mit der blutigen Battle of the Beanfield einen traumatischen Höhepunkt erreichte, aber zum Glück nicht das Ende der Party bedeutete.

Was du zu dem Film wissen musst:
Wer seinen Freunden schonmal ein Video aus dem Club oder von einer Party geschickt hat, weiß, wie schwer sich Ekstase, Ausgelassenheit, überhaupt ein Vibe an jene vermitteln lassen, die nicht dabei waren. Aaron Trinder leistet mit FREE PARTY daher Großartiges. Und das lange vor der Ära der Hosentaschenkameras. Trinders geschicktem Einsatz von körnigen Originalaufnahmen, Animationen und ultra-sympathischen Interviews mit den alternden Häuptlingen der ehemaligen Party-Trupps ist es zu verdanken, dass wir uns nach FREE PARTY so fühlen, als wären wir dabei gewesen – ein wunderbares Stück Zeitgeschichte für ein so flüchtiges wie jugendkulturell wichtiges Phänomen. Passenderweise wird die Doku auch am 11. Oktober im Berliner Club Kater Blau gezeigt mit anschließendem Q&A mit dem Regisseur.

Termine bei der 1. Dokumentale
11.10., 18 Uhr, Kater Blau, als D’Lounge mit DJ Set
19.10., 21 Uhr, Sputnik Kino

HARDLY WORKING

HARDLY WORKING © Total Refusal
HARDLY WORKING © Total Refusal

Total Refusal, Österreich, 2022

Darum geht es:
HARDLY WORKING ist ein 20-Minüter des marxistischen Videospiel-Doku-Kollektivs Total Refusal. Anhand von sogenannten Non-Playable Characters (NPCs) oder nicht-spielbaren Statisten schaut sich das Kollektiv die Darstellung von körperlicher Arbeit im Konsolenklassiker Red Dead Redemption II an. Der Tischler hämmert Nägel immer an die gleich Stelle im Steg, die Waschfrau lungert an ihrem freien Tag schwatzend an einer Straßenecke, der Stallgehilfe geht sturzbetrunken mit dem Wassereimer immer im Kreis – die minutiöse Beobachtung und verbale Beschreibung dessen, was wir ohnehin sehen, ist zum einen herrlich hypnotisierend und wird andererseits mit Philosophismen über unsere spätkapitalistische Arbeitswelt mariniert. Das ist genauso unsinnig und zugleich wunderbar einleuchtend, wie es sich anhört.

Was du zum Film wissen musst:
Zeitaufwendige und detailversessene Liebesmühe dürften in HARDLY WORKING geflossen sein. Richtig rund wird die Doku als Abschluss des Dokumentale-Themenabends „Der Sturm aufs Kapitol, Manosphere und NPCs“ am 19. Oktober um 18.30 im Festivalzentrum D’25. Hier werden der Sturm aufs Kapitol, toxische Männlichkeit und die rechtsideologische Vereinnahmung von Videospielen aus journalistischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Sicht betrachtet.

Termine bei der 1. Dokumentale
19.10., 18.30 Uhr, D’24 Festivalzentrum (im Living Berlin) als D’Salon
* außerdem findet am 18.10. um 18.30 Uhr im Filmrauschpalast Moabit die D’Lounge „Red Redemption – Live Performance“ mit und von Total Refusal statt