40. Interfilm: Bunt, wild and all over the place
Ein 40. Geburtstag! Eigentlich ein gutes Alter für die erste Midlife-Crisis und andere Phasen des Selbstzweifels. Interfilm, das vom 5. bis 10. November stattfindet, merkt man die 40 aber nicht an: Das Programm aus sechs Wettbewerben mit 20 Programmen ist so riesig und bunt und vielfältig wie die Jahre zuvor, mit dem gleichen mutigen Spagat zwischen breitenwirksamen Unterhaltungskurzfilmen und politischen, kuratierten Diskursbeiträgen. Und dann ist da diese unbedingte Publikumsnähe, die auch immer Kiez- und Community-Verbundenheit bedeutet, wie man es beispielsweise im meist proppevollen Neuköllner Rollberg-Kino fühlt, aber inzwischen auch im Weddinger Sinema Transtopia erleben kann.
Einige Interfilm-Veranstaltungen sind zwischenzeitlich echte Institutionen, darunter der „Sound & Vision“-Abend in der Volksbühne, an dem Filmmusiker*innen und Foley Artists ausgewählte Kurzfilme Filme live neu vertonen, aber auch das Eject-Programm für die ganz besonders irrwitzigen und absurden Filme, über die das Publikum dann direkt abstimmen kann. Hinzu kommen das InterForum als Diskurspool für Filmschaffende, Specials (darunter ein „Karaoke-Abend“, an dem ikonische Filmszenen quasi neu und frei improvisiert werden können, und ein Super8-Retroprogramm) sowie Parties.
Der Fokus des diesjährigen Programms heißt „Embodiment“ und fokussiert sich auf den Körper – physisch besehen, politisch-diskursiv verstanden sowie in Bezug auf das Medium Film, das ja auch über eine eigene Körperlichkeit verfügt. Dabei kuratieren unter anderem Yergalem Taffere und Lena Whoooo eine Reihe zum „Black Gaze“, der der Vereinnahmung des Schwarzen Körpers durch weiße Narrative „Schwarze Identitäten aus inniger Perspektive jenseits von Klischees und Stereotypen“ entgegensetzt. Auch Barrierefreiheit steht im Mittelpunkt: Die Hörfilmbeschreiber*innen Barbara Fickert und Ralf Krämer haben gemeinsam einen Abend mit barrierefreien Fassungen hauseigener Interfilm-Verleih-Beiträge zusammengestellt (mit offener Audiodeskription gut hörbar und mit erweiterten, im Bild eingebrannten Untertiteln gut sichtbar) – im Anschluss stellen sie einen Leitfaden zur Barrierefreiheit im Kurzfilm vor. Passend läuft derzeit übrigens auch die Crowdfunding-Kampagne „Heroes für alle“ zur Erstellung eines Erklärfilms, dessen Ziel es ist, die Vorteile sowie praktische Produktion inklusiver Filmfassungen zu verdeutlichen.
Ein weiteres Sound-Special ist übrigens das Animation Rendezvous im Zeiss Großplanetarium, das Full-Dome-Filme sowie eine Live-Performance, die Fulldome und Sound zusammenbringt – hier ist das Festival of Animation Berlin, das nach seinem Sabbatical 2025 wieder stattfindet, der Co-Partner.
Flankierend zum Interfilm findet auch wieder das KUKI statt (3.- 10. November), Berlins junges Kurzfilmfestival – und zwar bereits zum 17. Mal, wie BFF-Autorin Stefanie Borowsky berichtet.
Marie Ketzscher
In der Folge haben wir in der Redaktion einige Filme zusammengestellt, die wir den Leser*innen gern ans Herz legen würden.
LAND DER BERGE
Darum geht es:
Einen Vater, der seiner Tochter ein besseres Leben in Deutschland bieten möchte – aber der von Anfang an als prekär beschäftigter Migrant keine Chance hat. Der keine schlecht bezahlten Malerjobs mehr bekommt und daher überlegt, ob er sich einen Daumen abhacken soll, um Versicherungsbetrug zu begehen, so groß ist die Verzweiflung.
Was du zum Film wissen musst:
Etwas sehr pädagogisch und auf die 12 inszeniert, aber Vladimir Vulević als verzweifelter Vater ist eine wahre Wucht und auch die von Filipa Gregec verkörperte Tochter spielt sich sofort ins Herz. Die Dringlichkeit des Themas übersetzt sich durch ihre Dynamik, ihr körperliches Spiel trifft. Fast nicht zu fassen, dass Vulević der Regisseurin Olga Kosanović nur einen Freundschaftsdienst erwies: Eigentlich ist er nämlich Regisseur und steht hinter und nicht vor der Kamera. – MK
Termine beim 40. Interfilm (im Programm EMBODIMENT: Body Politics)
07.11.24, 18:00h, Pfefferberg Haus 13
09.11.24, 18:00h, SİNEMA TRANSTOPIA
10.11.24, 20:00h, Kino & Bar in der Königstadt
SLIMANE
Darum geht es:
Der Schwarze Protagonist war im Gefängnis, er kehrt zurück in seine Community in einem kleinen Dorf, aber sein Freund wurde „mitgenommen“, alles ist unwirtlich, provinziell, feindlich. Schließlich kehrt er zurück an einen Fluss, zieht dort vorsichtig einen Perlenohrring an, und die erlösende Techno-Musik wird lauter. Wir begreifen nur bruchstückhaft, was passiert und passiert ist – und das ist SLIMANEs rätselhafte Stärke.
Was du zum Film wissen musst:
Wie findet man Bilder, um von queerfeindlicher Gewalt zu erzählen, ohne dabei queeres Leid zu reproduzieren? Carlos Perreira imaginiert mit SLIMANE (der unter anderem beim achtung berlin als Bester Kurzfilm ausgezeichnet wurde) eine Dystopie, in der queere Menschen verfolgt werden – und findet dabei eine eindrückliche, großartige Bildsprache. Er hat sich auf eine reduziert-fokussierte Komposition entschieden, die Leerstellen zulässt, auch in der Interpretation. Ein starker, nachhallender Film. Carlos Perreira ist übrigens inzwischen schon mit dem nächsten Projekt unterwegs: Sein ICEBERGS feierte dieses Jahr in Locarno seine Premiere. – MK
Termin beim 40. Interfilm (Deutscher Wettbewerb)
06.11.24, 20:00h, Cinestar Kino in der KulturBrauerei
08.11.24, 18:30h, Unterfilm Clubkino
09.11.24, 22:00h, Pfefferberg Theater
SPÄTSOMMER 91
Darum geht es:
Die Vergangenheit mit Gegenwartsbrille: Olaf Held findet altes Footage wieder: Er, mit den Freund*innen beim Feiern, kurz nach der Wende. Doch anstatt der Nostalgie des In-der-Erinnerung-Kramens zu erliegen, erfindet Held eine neue, absurde Geschichte zum Fragment. Erzählt in breitestem Sächsisch damit auch von den Erfindungsmöglichkeiten, die das Kino überhaupt bietet. Das ist gleichzeitig saulustig, anrührend und sehr charmant.
Was du zum Film wissen musst:
Olaf Held hat mit seinem wunderbar kleinen Film völlig zu Recht den Dreifachen Axel beim Kurzfilm Festival Hamburg gewonnen. Der Dreifache Axel ist einer der schönsten Institutionen des Festivals: Hier können Filmemacher*innen und auch völlige Amateur*innen einen Film zu einem gesetzten Thema einreichen, nur länger als drei Minuten darf er nicht sein. 2024 lautete das Thema: Salz! – MK
Termin beim 40. Interfilm
08.11.24, 22:00h, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (eject_XXVII – Die lange Nacht des abwegigen Films)
07.11.24, 18:30h, Unterfilm Clubkino (SPECIALS: Reality Bites)
09.11.24, 20:30h, Zeiss-Großplanetarium Kino (SPECIALS: Reality Bites)
DES RÊVES EN BATEAUX PAPIERS
Darum geht es:
Port-au-Prince in Schwarz-weiß. Bilder, die etwas von Sehnsucht haben. Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die wir nur erahnen können. Edouard lebt zwischen dieser Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Von seiner Frau ist ihm nur ihre Stimme geblieben, als Tonaufnahme auf einer Kassette. Untermalung seines Alltags: tröstlich, sinnlich, schmerzhaft. Immer anwesend und doch nie da. Zart und selbstverständlich sorgt Edouard für seine Tochter Zara – Liebe als Fixpunkt, als Anker. DES RÊVES EN BATEAUX PAPIERS erzählt von Trauer, Flucht und Zurückbleiben und ganz nebenbei noch von Zuneigung und Vaterschaft jenseits gegenderter Klischees.
Was du zum Film wissen musst:
DES RÊVES EN BATEAUX PAPIERS ist der zweite Film in Samuel Suffrens Trilogie über den Amerikanischen Traum in Haiti. Sein erster Film AGWE trägt den Namen der Gottheit, die im haitianischen Voodoo über das Meer herrscht und Schutzpatron der Seeleute ist. Der Film beschäftigt sich mit Migration und Flucht aus Haiti in die USA – über das Meer. Abwesenheit, Warten und Verlust sind Themen, die sich schmerzhaft und ehrlich durch Suffrens Filme ziehen. LÒTBÒ, der dritte Teil seiner Trilogie, dreht sich schließlich um die Exilerfahrung von Samuel Suffrens Familie in den USA und in Kanada. Die Dokumentation befindet sich zurzeit noch in Produktion. – TR
THE MIRACLE
Darum geht es:
Urlaub ganz allein im All-Inclusive-Hotel – Entspannung pur? Eher zwanghafter Spaß, Entspannung auf Knopfdruck, ständiges Yoga und gechlortes Wasser. Vor allem aber: Aggressiv gelebte Zweisamkeit, Familienspaß und Reproduktion. Überall schwangere Frauen – ein Wunder der Natur! Ach, wie schön! Wie märchenhaft! Kafkaeske Normativität. Ein erfülltes Leben scheint plötzlich leer und mangelhaft – ein Gefühl von Einsamkeit, so zwanghaft und verordnet wie die Urlaubsaktivitäten im Hotel.
Was du zum Film wissen musst:
In THE MIRACLE bewegen sich Figuren, die zweidimensional auf transparente Folien gezeichnet wurden, in einer dreidimensionalen Stop-Motion-Welt. Sie sind durchlässig, in den Bäuchen der Schwangeren sehen wir also die ungeborenen Embryos – wie durch Animation zum Leben erweckte Ultraschallbilder. Drei Jahre dauerte die Produktion dieses 15-minütigen Films. Die Arbeit von Regisseurin Nienke Deutz könnte detailreicher kaum sein, von den zu Schwänen geformten Handtüchern bis hin zu den Delfinen am Hotel-Pool. Mit Witz und Widerstand untersucht THE MIRACLE gesellschaftliche Obsessionen rund um Schwangerschaft und Familie. – TR
getty abortions
Darum geht es:
Filmemacherin Franzis Kabisch hat abgetrieben, als sie 24 war. Doch in den gängigen medialen Darstellungen findet sie sich und ihre nach dem Abbruch empfundene Erleichterung nicht wieder. In Zeitungsartikeln über Abtreibung sieht sie stattdessen immer die gleichen Bilder in tristen Farbtönen: Frauen allein in anonymen Settings, Frauen von hinten, die nachdenklich aus dem Fenster schauen oder ihr Gesicht in den Händen verbergen, Frauen ohne Umfeld, ohne Kontext und ohne Geschichte. Inwiefern tragen diese stereotypen Bilder – beliebig austauschbare Stockfotos – zum Stigma um Abtreibende bei und verfestigen es?
Was du zum Film wissen musst:
Franzis Kabisch beschäftigt sich auf künstlerische und wissenschaftliche Art mit dem Thema Abtreibung in Filmen und Serien. Für ihren Desktop-Essayfilm GETTY ABORTIONS gewann sie u. a. die Goldene Taube bei DOK Leipzig und den Goldenen Schlüssel beim Kasseler Dokfest. Sie entlarvt darin vorherrschende mediale Narrative und die dazu passende stereotype Bildsprache, die Abtreibenden die Individualität und das Recht auf ihre eigene Geschichte abspricht – und die auf erschreckende Weise an Abbildungen vermeintlich „hysterischer“ Frauen Ende des 19. Jahrhunderts erinnert. Kabisch analysiert aktuelle Zeitungsartikel sowie Beiträge aus der Jugendzeitschrift BRAVO GIRL! aus den 2000ern – und zeigt auf, wie wenig sich verändert hat. – StB
Termine beim 40. Interfilm (DOC DOKUMENTARFILM WETTBEWERB: My Body, My Battle)
06.11.24, 13:00h, Kino & Bar in der Königstadt (accreditation only!)
08.11.24, 18:00h, SİNEMA TRANSTOPIA
09.11.24, 18:00h, ACUDkino
10.11.24, 17:30h, Cinestar Kino in der KulturBrauerei 08.11.24, 15:00h, Pfefferberg Haus 13 (InterForum Case Study: Franzis Kabisch – getty abortions / Abtreibung neu erzählt – Medien, Aktivismus und persönliche Geschichten im Desktop-Essayfilm)
PORZELLAN
Darum geht es:
Gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer älteren Schwester fährt die kleine Fina zu einem Polterabend auf eine abgelegene Insel. Während des Aufenthalts dort kapselt sie sich von den anderen ab und zieht sich zurück. Die Feierlichkeiten und das laute Zerschlagen des Geschirrs scheinen das Mädchen zu irritieren. Den ganzen Tag hofft die Zehnjährige, dass ihre Mutter doch noch auftaucht. In ihrem Schmerz klammert sie sich an einen geblümten Porzellanteller, der noch unbeschädigt ist.
Was du Film wissen musst:
Regisseurin und Co-Drehbuchautorin Annika Birgel stellte PORZELLAN 2024 in der Sektion Generation Kplus der Berlinale als Weltpremiere vor. Feinfühlig nimmt sie darin die Sehnsucht eines kleinen Mädchens nach seiner abwesenden Mutter in einer patriarchal geprägten Gesellschaft in den Blick. Birgels Kurzfilme liefen auf internationalen Filmfestivals wie der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes, dem Toronto International Film Festival und dem Palm Springs International Short Fest. – StB
BIG MOVES
Darum geht es:
Die mehrgewichtige Filmemacherin Sarah hat sich selbst aufgrund ihres Körpers nie als Tänzerin gesehen. Doch während der Pandemie entdeckt Sarah durch einen Onlinekurs (ohne Laptop-Kamera!) aus ihrer sicheren Wohnung heraus das Tanzen für sich – und findet zu einem ganz neuen Körpergefühl.
Was du Film wissen musst:
Die schottische Regisseurin und Drehbuchautorin Sarah Grant legt mit BIG MOVES eine kluge, ehrliche Reflexion über Kontrolle, Selbst- und Fremdwahrnehmung und Körperbilder in Film und Gesellschaft vor. BIG MOVES, Grants erster Dokumentarfilm, war bereits beim Palm Springs Short Fest 2024 zu sehen und legt die Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit von Fat Shaming offen. – StB
ÉTÉ 2000 (SUMMER 2000)
Darum geht es:
Im Sommer 2000 macht sich die 9-jährige Sarah erste Gedanken um die Liebe. Mit ihrer älteren Schwester Raphaëlle und deren Freund*innen verbringt sie ihre Zeit im Skate-Park und beobachtet die Jugendlichen und deren erste Beziehungen durch die Linse einer Videokamera. Doch dann erlebt Sarah einen sexuellen Übergriff, der sie aus der Bahn wirft.
Was du zum Film wissen musst:
Das kanadische Drehbuch- und Regieduo Virginie Nolin und Laurence Olivier inszeniert das Jahr 2000 auf überzeugende Art: Szenenbild, Mode und die Aufnahmen mit dem Videorekorder zeichnen ein stimmiges Bild. Darüber hinaus ist den beiden eine nuancierte und feinfühlige Geschichte über sexualisierte Gewalt und das Vertrauensverhältnis zweier Schwestern gelungen. – StB
I BECAME A CAT
Darum geht es:
Nach dem Tod seiner geliebten Katze Haru verwandelt sich ein Mann selbst in eine menschengroße Katze, die Haru verblüffend ähnlich sieht. Niemand außer ihm selbst scheint seine tierische Verwandlung, die manchmal ganz schön unpraktisch ist, zu bemerken. Oder vielleicht doch?
Was du zum Film wissen musst:
Heeyoung Lee, verantwortlich für Regie, Drehbuch und Koproduktion, setzt sich im Animationsfilm I BECAME A CAT, der bei den Digicon6 Asia Awards 2024 den Gold Award gewann, auf kreative und originelle Weise mit dem schmerzhaften Verlust eines Haustiers und der Liebe zu unseren tierischen Mitgeschöpfen auseinander. – StB
Termine beim 40. Interfilm (Programm EJECT XXVII – die lange Nacht des abwegigen Films)
08.11.24, 22:00h, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz