21. achtung berlin filmfestival: Krieg, Konflikte, Freundschaft und Zusammenhalt


ANOTHER GERMAN TANK STORY © Adam Graf, FILMPERLEN
ANOTHER GERMAN TANK STORY © Adam Graf, FILMPERLEN

Vom 2. bis 9. April 2025 ist die 21. Ausgabe des achtung berlin filmfestivals wieder in der Hauptstadt zu Gast und vergibt eine Reihe von Preisen für die lokale Filmszene. In verschiedenen Wettbewerben werden die besten Spiel-, Dokumentar-, Mittellange- und Kurzfilme sowie Serien aus Berlin und Brandenburg ausgezeichnet; außerdem gibt es die Branchentage sowie die English Days für das Berliner Expat-Publikum. Viele der rund 80 aktuellen Beiträge, darunter zahlreiche Premieren, setzen sich mit den Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs auseinander, dessen Ende sich im Mai zum 80. Mal jährt. Der Eröffnungsfilm BLINDGÄNGER von Kerstin Polte erzählt vom Fund eines solchen militärischen Überrests, der mitten in der Stadt nicht nur zu einer großräumigen Evakuierung führt, sondern ebenfalls zwischenmenschliche Ausnahmezustände auslöst. Auch in Jannis Alexander Kiefers ANOTHER GERMAN TANK STORY spielen Hinterlassenschaften aus dem Krieg eine Rolle. Das abgeschiedene Dorf Wiesenwalde wird darin auf den Kopf gestellt, als eine amerikanische Crew eine Serie über den Zweiten Weltkrieg drehen will.

Die diesjährige Retrospektive widmet sich unter dem Titel „Der lange Schatten“ den Nachwirkungen des Holocausts. Acht Werke aus verschiedenen Jahrzehnten und Gesellschaftssystemen der Nachkriegszeit beleuchten Versuche der Auseinandersetzung, Aufarbeitung und Verdrängung im deutschen Film. Darunter die DEFA-Produktion DIE MÖRDER SIND UNTER UNS von Wolfgang Staudte, die als erster deutscher Nachkriegsfilm in die Geschichte eingegangen ist.

Darüber hinaus beschäftigt sich achtung berlin dieses Jahr unter anderem mit Mikrokosmen, Freundschaften, unterschiedlichsten Familienkonstellationen und das Aufeinandertreffen verschiedensten Lebensrealitäten. Hier findet ihr die Programmtipps der BFF-Redaktion:

NINJA MOTHERF*CKING DESTRUCTION

NINJA MOTHERF*CKING DESTRUCTION © 2025 Ninja Motherfucking Destruction
NINJA MOTHERF*CKING DESTRUCTION © 2025 Ninja Motherfucking Destruction

Darum geht es:
Jugend – die Zeit, in der man noch nicht weiß, auf wen oder was man eigentlich steht. Wohin einen das Leben führen soll. Was man noch alles ausprobieren möchte. Welche Substanzen so richtig ballern. Und in der Freundschaften scheinbar für die Ewigkeit geschlossen werden. NINJA MOTHERF*CKING DESTRUCTION folgt Leonie (Emma Suthe) über acht Jahre hinweg durch diese wilde und freie, aber auch fordernde und frustrierende Lebensphase. Die erste WG in Schöneberg, die nicht so richtig funktioniert. Die gemeinsame Zeit mit ihrer besten Freundin Marlene (Merle von Mach), von der sie sich zunehmend entfernt. Die erste Liebesbeziehung mit Naomi (Marie Tragousti), die in Rostock studiert und mit Depressionen zu kämpfen hat. Der Job im Bioladen bringt sie dabei nicht so richtig voran, doch ein Studium kommt für sie auch nicht in Frage. Wenn das doch alles so einfach wäre …

Was du zum Film wissen musst:
Das Filmteam um die Regisseurin Lotta Schwerk hat NINJA MOTHERF*CKING DESTRUCTION von 2017 bis 2024 als Crowdfunding-Projekt gedreht. In diesem Zeitraum machten sie und ihre Schauspielerinnen ganz ähnliche Lebenserfahrungen, wie die Protagonistinnen ihres Films. Der Handlungsverlauf stand nicht von Anfang an fest, sondern wurde jedes Jahr weiterentwickelt. Dadurch gelingt es ihnen, besonders intime Einblicke in den Prozess des Erwachsenwerdens zu liefern. Die sporadische Drehweise zeigt das Leben als Reihe von Momentaufnahmen, viele Dinge geschehen im Off, außerhalb der gezeigten Handlung: Trennungen, zerbrochene Freundschaften, neue Lebenswege und die Belastung der COVID-19-Pandemie. Das kann man Dokufiktion nennen, oder Slice of Life … Vor allem aber ist es ehrliches Kino, das keine Angst davor hat, unabhängig von der öffentlichen Filmförderung und mit geringen Produktionsmitteln ambitionierte Geschichten zu erzählen. – HK

Termine bei achtung berlin:
Montag, 7. April, 17:30 Uhr, Babylon 1
Dienstag, 8. April, 19:00 Uhr, IL KINO

FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG

FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG © Corso Film / ZDF
FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG © Corso Film / ZDF

Darum geht es:
Nina (Birgit Unterweger) und Henri (Rafael Stachowiak) befinden sich in persönlichen Lebenskrisen. Er ist Sozialarbeiter und leidet unter Schwindelanfällen, sie arbeitet in einer Werbeagentur und fühlt sich in ihrer Arbeit und ihrem Familienleben als Versagerin. Zur Behandlung kommen sie in die opulente psychotherapeutische Klinik Dr. Barner in Braunlage im verschneiten Harz. Zwischen verschiedenen Therapieformen und Ruheübungen begegnen sie sich und lernen sich und einander langsam kennen. Im Hausarchiv des altertümlichen Sanatoriums beschäftigt sich eine Historikerin mit der Geschichte der Kuranstalt und der Gestaltung des klinischen Raums.

Was du zum Film wissen musst:
FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG ist das Spielfilm-Debüt des Wim-Wenders-Stipendiaten Sascha Hilpert und entstand in Koproduktion mit Das kleine Fernsehspiel. Darin wählt er eine ausschnitthafte Erzählweise: Therapiegespräche wechseln sich mit dem zaghaften Kennenlernen der beiden Behandelten, den Archivrecherchen der Forscherin, Mahlzeiten im Speisesaal, Kunsttherapie und Puzzlespielen ab. Auffällig ist dabei die klinische und routinierte Distanz, mit der Depression und Burn-out (bzw. Neurasthenie, wie diese einst bezeichnet wurden) hier behandelt werden. Hilpert gelingt eine interessante und stellenweise durchaus humorvolle Auseinandersetzung mit den stark romantisierend dargestellten Abläufen des Klinikalltags. Es wäre jedoch wünschenswert gewesen, wenn sich sein Film auch kritisch mit der Deutungshoheit der klinischen Psychiatrie und dem selektiven Luxus der Behandlungsformen in dieser (real existierenden) Privatklinik auseinandergesetzt hätte. – HK

Termine bei achtung berlin:
Samstag, 5. April, 17:00 Uhr, Babylon 1
Sonntag, 6. April, 19:00 Uhr, IL KINO

IM PRINZIP FAMILIE

© DOK Leipzig 2024 / IM PRINZIP FAMILIE, Bandenfilm, Johannes Praus
© DOK Leipzig 2024 / IM PRINZIP FAMILIE, Bandenfilm, Johannes Praus

Darum geht es:
Wenn die Eltern nicht mit dem Alltag klar kommen, ihre Kinder vernachlässigen, schlagen oder sogar missbrauchen, kommen die Schutzbefohlenen manchmal (auf eigenen Wunsch oder staatlich veranlasst) in kleine Wohngruppen, in denen die Erzieher*innen quasi zwangsläufig die engsten Bezugspersonen werden. Quasi und im Prinzip Familie also. Daniel Abma hat ein solches sozialpädagogisches Wohnprojekt mit 6- bis 12-jährigen Jungen und vor allem den Alltag der Erzieher*innen zwischen bürokratisch-kalter Dokumentation, Schlichtung, Kuscheln und ständiger Mediation mit den nicht gerade unkomplizierten Eltern über ein Jahr begleitet; dem Dreh gingen fünf Jahre Recherche voraus.

Was du zum Film wissen musst:
Daniel Abmas IM PRINZIP FAMILIE feierte seine Weltpremiere bei der 67. DOK Leipzig im Deutschen Wettbewerb. Für seine genaue, unaufgeregte, empathische Beobachtung gewann er zu Recht drei Partnerpreise, unter anderem den ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness. Dabei erliegt Abma nie der Versuchung, die Erzieher*innen zu heroisieren oder, andererseits, die Eltern zu dämonisieren – obwohl es wahrlich genug Gründe gäbe. Man verlässt den Film mit einer großen Wertschätzung für die engagierten Erzieher*innen und ihren Kampf um Perspektiven und Optimismus, von denen sich jede*r eine Scheibe abschneiden könnte oder gleich mehrere. – MK

Termine bei achtung berlin:
Samstag, 5.4.2025, 15:00 Uhr, Babylon 1
Sonntag, 6.4.2025, 18:00 Uhr, Bali Kino
Sonntag, 6.4.2025, 20:00 Uhr, Babylon 3
Samstag, 12.4.2025, 15:15 Uhr, Schukurama Beeskow

HIMMEL WIE SEIDE. VOLLER ORANGEN

HIMMEL WIE SEIDE. VOLLER ORANGEN © Betina Kuntzsch
HIMMEL WIE SEIDE. VOLLER ORANGEN © Betina Kuntzsch

Darum geht es:
„Wir waren ja so hungrig nach Farben.“ Ein einfacher Satz, der aber ein großes Gefühl, einen kompletten Gemütszustand einzufangen weiß. Gesprochen wird er in HIMMEL WIE SEIDE. VOLLER ORANGEN von Betina Kuntzsch, der auf der DOK Leipzig seine Weltpremiere feierte. Ein Film über die erste Reise von DDR-Bürger*innen nach Mallorca, als die Mauer zwar schon weg war, aber die Wiedervereinigung noch nicht einmal begonnen hatte. Ein Film, den man unweigerlich durch die Brille aktueller Debatten über den Rechtsruck und die Wurzeln dieser Entwicklung, gerade in Ostdeutschland, schaut. Die Ambivalenzen dieser Debatte lassen sich nämlich auch bei Kuntzsch verorten: HIMMEL WIE SEIDE. VOLLER ORANGEN fängt nicht nur das große Glück ein, das Viele angesichts der Reisefreiheit verspürten oder die Hoffnung auf eine neue, bessere Lebensphase, sondern zeigt auch die Arroganz, mit der viele Westdeutsche und auch die Politik den neuen Mitbürger*innen begegne(te)n.

Was du zum Film wissen musst:
Dass man Kuntzschs Film nicht als simplen Debattenbeitrag guckt, liegt vor allem an ihrer so eigenen Handschrift, mit der sie im Bereich des animierten Dokumentarfilms heraussticht: HIMMEL WIE SEIDE. VOLLER ORANGEN ist ein Mixed-Media-Projekt aus Postkarten, Fotos, Reisebelegen und alten Interflug-Katalogen, die sich immer wieder über- und ineinander schieben. Die Animation, die sich Kuntzsch als Autodidaktin selbst angeeignet hat, entsteht organisch aus den Bildern heraus. Das Menschenpersonal läuft manchmal los, dreht den Kopf, lacht. Aber es gibt keine Talking Heads, und auch keine flüssigen Bewegungen. Alles bleibt fragmentarisch, wird aufgebrochen, die Konstruktion bleibt immer sichtbar. Die Form ist essayistisch, auch die Tonebene ist eine Collage. Kuntzsch bietet gern Zwischentöne an. – MK

Disclaimer: Dieser Text ist direkt bzw. zum Teil leicht abgewandelt als Zitat dem Porträt über Bettina Kuntzsch auf Shortfilm.de entnommen.

Termine bei achtung berlin:
Donnerstag, 3.4., 20:15 Uhr, City Kino Wedding (Teil des Kurzfilm-Wettbewerbs #1)
Freitag, 4.4., 18 Uhr, Babylon 2 (Teil des Kurzfilm-Wettbewerbs #1)
Samstag, 5.4., 17:45 Uhr, Babylon 3 (Teil des Kurzfilm-Wettbewerbs #1)

SONNENSTADT

SONNENSTADT © achtung berlin
SONNENSTADT © achtung berlin

Darum geht es:
Gott, Abstinenz und die Rückkehr zum einfachen Leben: In einer tosenden Welt voller Unsicherheit und Prekariat bieten Glaubensgemeinschaften vielen Menschen die Hoffnung auf Geborgenheit und Zugehörigkeit – auch wenn sie oft genug sektenähnliche Züge annehmen. Das gilt auch für die Gemeinschaft Abode of Dawn, irgendwo abgelegen, im ohnehin abgelegenen Sibirien. In den 1990ern hat sich dort der ehemalige Streifenpolizist Sergei Anatolyevitch Torop zu Vissarion erklärt,  dem wiedergeborenen Jesus Christus. Er gründete die „Church of the Last Testament“; es folgten ihm und seinem Ruf rund 4000 Menschen, die nun dort leben und hart arbeiten. Kristina Shubert hat über fast zehn Jahre bei fünf Dreh-Besuchen und zum Teil wiederkehrenden Protagonist*innen geschaut, was Leute dazu bewegt, sich Vissarion anzuschließen, und gefragt, ob sie glücklich sind. Dabei geht sie auch der Frage nach, ob diese Loslösung aus allen modernen und kapitalistischen Zusammenhängen denn überhaupt noch möglich ist.

Was du zum Film wissen musst:
Shtuberts Film lebt von der Neugier der Regisseurin und ihrer Hartnäckigkeit – dank ihr können wir beispielsweise beobachten, wie Bewohner*innen mit ihrer Entscheidung hadern, weggehen und zurückkehren. Shtubert zeigt aber natürlich auch die Grenzen dieser Gemeinschaft auf: Die Anziehungskraft der äußeren Welt ist mächtig, natürlich kommen auch Alkohol und Drogen durch die vermeintlich abstinenten Ortsgrenzen. Shtubert entzaubert in SONNENSTADT auch Vissarion, der natürlich viel dekadenter lebt als seine Anhänger*innen (im Grunde ein riesiger Fehler, dass er sich überhaupt vor die Kamera begibt und diese Entzauberung selbst zulässt) und im zweiten Vermählungsversuch eine 19-jährige ehelichte, die seit ihrem 7. Lebensjahr bei ihm gelebt hat. Die Synopsis des Films suggeriert auch, dass die Gemeinschaf durch die politische Zwangsjacke Putins bedroht ist. De facto stimmt das: In Putins Glaubenssystem ist jede*r verdächtig, der eine alternative Lebensform wählt, die nicht durch Systemtreue oder Mitläufertum bestimmt ist. Fast schon erwartbar wurde Vissarion 2020 dann auch festgenommen. Der Vorwurf: Er hätte eine illegale religiöse Organisation aufgebaut, Geld erpresst und anderen Menschen körperliche Gewalt zugefügt. Seit 2021 sitzt er im Gefängnis und wartet auf seinen bislang nicht datierten Prozess; russischer Justizalltag also. Nichtsdestotrotz: Da Shtubert vor allem an den Menschen innerhalb der Gemeinschaft interessiert ist und keinen dezidierten Fokus darauf legt, Vissarion irgendwie gearteter und vielleicht sogar zum Teil tatsächlich begangener Delikte zu überführen, hätte es der Dokumentation vielleicht sogar gut getan, diese aktuelle politische Entwicklung außen vor zu lassen. – MK

Termin bei achtung berlin:
Samstag, 5.4.2025, 19:15 Uhr, Lichtblick-Kino
Sonntag, 6.4.2025, 19:00 Uhr, ACUDkino
Montag, 7.4.2025, 20:00 Uhr, Babylon 3