67. Berlinale: „Kaygı“ („Inflame“) von Ceylan Özgün Özcelik
Diesem Zustand versucht Ceylan Özgün Özcelik in „Kaygı“ auf den Grund zu gehen und inszeniert ihr politisches Drama als spannenden Psychothriller über eine Frau, die den Druck nicht mehr aushält, nicht mehr weiß, was sie glauben soll und darüber langsam verrückt wird.
Klaustrophobische Innenaufnahmen der verwinkelten, komplett verstaubten Altbauwohnung, wechseln sich ab mit tableauartigen, überwältigenden Stadtansichten, die Istanbul als eine Stadt im ständigen Auf-, Ab- und Umbau zeigen. Das Zusammenspiel atmosphärischer Bilder, mit mit einer aufgeladenen, beständig flüsternd-knisternden Soundkulisse, lässt die Beklemmung auch außerhalb der Leinwand deutlich spürbar werden.
Je mehr Hasret sich in ihre Erinnerungen, in alte Fotos und Aufzeichnungen ihrer Eltern vertieft, desto mehr scheinen die Wände ihrer Wohnung zu glühen, sie einzuschließen und zu verbrennen. Extreme Kamerawinkel und beschleunigte Schnitte, kurze Flashbacks und Schatten, die durch die dunklen Zimmer huschen lassen – auf relativ konventionelle Art zwar, aber dennoch effektiv – die Spannung steigen.
Und dazwischen immer wieder Nachrichtenbilder mit der Übertragung einer Rede eines namenlosen Politikers: Ein Einkaufszentrum soll gebaut werden, Menschen protestieren, während Hasrets Wohnung sich immer mehr mit Rauch füllt. Diese Bilder wecken Erinnerungen an die mehrere Monate andauernden Proteste gegen die Bebauung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls im Sommer 2013.
Immer mehr Ungereimtheiten tun sich in Hasrets Vergangenheit auf: Die Menschen, die es wissen könnten, hüllen sich jedoch in Schweigen. Waren ihre Eltern nicht auf dem Weg zu einem Festival gewesen, als der angebliche Unfall passierte? Was genau hat sich dort zugetragen?
In der Beantwortung dieser Frage liegt jedoch leider die Schwachstelle des Films: Denn das Ereignis, um das es hier eigentlich geht ist ein fundamentalistisch-religiös motivierter Brandanschlag, bei dem 1993 in einem Hotel in der zentralanatolischen Stadt Sivas anlässlich eines alevitischen Festivals über dreißig Personen ums Leben gekommen sind. Dieser Zwischenfall wird von offizieller Seite als „Sivas-Ereignis“ bezeichnet, während die Aleviten von einem Massaker sprechen.
Jährlich wird am 2. Juli den damals Verstorbenen gedacht. Offenbar befinden sich noch zahlreiche der damals Verurteilten auf der Flucht. Das Verständnis dieser Differenz setzt schon sehr viel Vorwissen der neueren türkischen Geschichte voraus.
Mit „Kaygı“ ist der Regisseurin ein bedrückender, psychologischer Genrefilm mit politisch aktueller Tragweite gelungen, der vor allem auch von der großartigen Leistung von Algı Eke als sich immer weiter in ihre depressive Paranoia hinein steigerende Hasret getragen wird und dessen Spannung sich in einem Filmende entlädt, das noch eine Weile nachklingt.
Tatiana Braun
„Kaygı“ („Inflame„), Regie: Ceylan Özgün Özcelik, Darsteller: Algı Eke, Özgür Çevik, Kadir Çermik, Boncuk Yılmaz, Selen Uçer, Asiye Dinçsoy.
Termine bei der 67. Berlinale:
Donnerstag, 16. Februar, 22:30 Uhr, Colosseum
Samstag, 18. Februar, 12:00 Uhr, CinemaxX 8