72. Berlinale: SONNE von Kurdwin Ayub – GWFF Preis Bester Erstlingsfilm


SONNE © Ulrich Seidl Filmproduktion

„Junge Frauen, Ösi-Style“ kündigt der Berlinale-Katalog Kurdwin Ayubs zweiten auf PARADIES, PARADIES folgenden Langfilm an, für den die Regisseurin mit ihrem Vater nach Kurdistan reiste und sich auf ihre humorvolle Weise mit der eigenen Familiengeschichte und Fragen nach Zugehörigkeit und Heimatgefühl auseinandersetzte. SONNE dreht sich um drei Teenagerinnen in Wien und greift Themen aus ihrem Debüt erneut auf. Die im Irak geborene und in Wien aufgewachsene Filmemacherin beweist sich als starke Stimme einer jungen Generation, indem sie mit Humor und Tiefsinn das Dazwischen postmigrantischer Lebensrealitäten einfängt. Instagram-Filter, Whats-App-Chats und Handyvideos vermischen sich dabei ebenso in das visuelle Repertoire wie R.E.M., Hijabs, Whisky und muslimischen Gemeinden.

Die Teenagerinnen Yesmin, Bella und Leyla haben sichtlich Spaß wenn sie in Influencerinnen-Manier mit Hijabs von Yesmins Mutter bekleidet auf dem Bett posieren und twerken. Ironischerweise zu „Losing my Religion“ nehmen die drei ein Video auf, das bald darauf auf YouTube landet. Yesmin kriegt Ärger von ihrer Mutter (gespielt von Ayubs Mutter Awini Barwari), die in dieser Aktion eine respektlose Haltung ihr selbst gegenüber und der Kultur ihrer Familie sieht, schließlich trägt ja auch Yesmin ein Kopftuch. Der Vater – Ayubs Vater Omar hat bereits in Paradies, Paradies sein Talent zur unterhaltsamen Darstellung bewiesen – mischt sich ein, argumentiert auf der Seite der jungen Leute, sie machten doch nur Spaß. So wird er nicht nur zu Yasmins Anwalt, sondern kommentiert begeistert das schnell viral gewordene YouTube-Video und organisiert Aufträge: Bald treten die drei Freundinnen auf kurdischen Festen und in der muslimischen Gemeinde auf, wo ihnen für ihre Performance nicht von allen Seiten Sympathie entgegenkommt.

Wenn Ayub vom Coming-of-Age ihrer Protagonistin Yesmin erzählt, haben wir selten das Gefühl so nah dran zu sein an der Lebensrealität von Teenager:innen wie in SONNE. Das hängt einerseits an den authentischen Darsteller:innen, die zum Teil Laien sind, andererseits an den alltäglichen digitalen Bildschirmen, die auch einen großen Teil der dargestellten Handlung einnehmen. Das Pendant dazu sind häufige Aufnahmen von Personen, die im Bett liegen und auf ihrem Smartphone scrollen. Was da draußen im Web und seinen Clouds passiert, wirkt direkt auf den Alltag von Yesmin und ihren Bruder ein. Denn Kerim wurde auf einer Instagram-Story identifiziert, in der er ein Wildschwein aus dem Lainzer Tiergarten tötet – Grund genug für die Polizei spät Abends bei der Familie aufzumarschieren. „Hier“ sollte man keine Schweine töten aber „hier“ sei es auch okay, mit der Polizei zu kooperieren, beruhigt Yesmins Vater seine in Panik versetzte Frau. Ayub verwebt viele Feinheiten, Alltägliches post-migrantischer jugendlicher Lebenswelten mit der spezifischen Geschichte um Yasemin und ihr Kopftuch, das immer wieder inner- und außerhalb der kurdischen Community zum Gesprächsthema, in SONNE aber keinesfalls zum Schlüssel eines Opfernarrativs oder einer Tragödie wird.

Während sich Bella und Nati lediglich für die gemeinsamen R.E.M.-Auftritte mit Kopftüchern verkleiden, legt Yesmin ihres nur zuhause ab. Außerhalb der eigenen vier Wände wird sie ständig mit urteilenden oder beiläufigen Kommentaren konfrontiert, etwa wenn die Freundinnen sich über den Schweiß unter dem Stoff beschweren oder zwei junge Kurden ihr vorwerfen, dass sie sich mit ihrer Performance über ihre Kultur lustig mache. Yasemin erklärt, dass sie zeigen möchte, dass auch Mädchen mit Kopftuch tanzen, singen und Spaß haben, doch die Männer lassen sich nicht überzeugen von diesem für sie festem Widerspruch. Wie nehmen die sich das Recht heraus, eine Meinung über ihr Äußeres zu reklamieren? Das ständige Othering von Kurd:innen, Österreicher:innen, Halb-Kurd:innen, Halb-Österreicher:innen, Muslim:innen, Nicht-Muslim:innen, Familie, Nicht-Familie führt Yesmin schließlich dazu, die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Eindeutigen Blicken und erneuter Aufmerksamkeit hält sie eisig stand. Feminismus drückt sich hier in der Handlungsmacht der Protagonistin aus, die sich ständig Erwartungshaltungen konfrontiert sieht und Schutz in und zugleich Ausbruch aus ihrer eigenen Blase sucht. Yasemins besten Freundinnen entfernen sich unterdessen mental und physisch von ihr und drehen ihr eigenes Ding. Wie kriegt eins so richtig Insta-Fame? Und wer weiß eigentlich, wie ist es grad so im Irak ist?

Die Kombination aus Tragik, Komik und Pop sorgte bereits in Ayubs Kurzfilmen für die besondere humorvolle Tiefe und findet in SONNE zu einer noch ausgereifteren Form. Dieser Film zeigt inhaltlich und ästhetisch, was kulturelle und ästhetische Zeitgeschichte einerseits und Progression im Kino andererseits bedeuten kann, schreitet nach vorne, bejammert die Vergangenheit nicht und erkennt sie ebenso als integralen Bestandteil der Gegenwart an. Autobiografische Elemente, die Eltern als Laiendarsteller:innen und die zu weiten Teilen freie Szenengestaltung lassen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, so wie auch Identitätszuschreibungen, Herkünfte und Zugehörigkeiten unscharf werden. Die Arbeit mit der Hybridität aus Fiktion und Realität erklärt auch die Herstellung von SONNE im Hause der Ulrich Seidl-Produktion, die nun glücklicherweise um eine junge weibliche Stimme erweitert wurde. Die Sonne findet sich in der Flagge Kurdistands wider, aber auch in der argentinischen, tibetischen oder nordmazedonischen und, wie die Filmemacherin selbst sagt: „Egal wo man is, in welchem Land, aus welcher Kultur, es ist eine Sonne, die auf uns runterschaut“.

Bianca Jasmina Rauch

SONNE erhielt bei der 72. Berlinale (Sektion: Encounters) den GWFF Preis als Bester Erstlingsfilm.

Diese Kritik ist erstmals auf filmloewin.de erschienen.