DAS LEHRERZIMMER von İlker Çatak


DAS LEHRERZIMMER © Alamode Film

Was im Lehrerzimmer passiert

Carla Nowak (Leonie Benesch), eine engagierte und idealistische junge Mathe- und Sportlehrerin, unterrichtet erst seit Beginn des Halbjahres an einem Gymnasium in einem namenlosen Ort. Im Umgang mit den Schüler*innen ist es ihr besonders wichtig, dass niemand lügt und sich alle fair verhalten, und dank ihrer verständnisvollen Art ist sie in ihrer siebten Klasse beliebt. Als sich Diebstähle in der Schule häufen und zwei Lehrer die beiden Klassensprecher*innen dazu drängen, eine*n ihrer Mitschüler*innen des Diebstahls zu beschuldigen, versucht Carla, das Vorgehen zu stoppen, kann jedoch nur hilflos zusehen. Doch sie setzt sich für Ali, den verdächtigten Siebtklässler, ein – und versucht, selbst herauszufinden, wer hinter den Taten steckt.

Bewusst lässt sie ihr Portemonnaie in ihrer Jackentasche im Lehrerzimmer zurück – und nimmt mit ihrer Laptopkamera auf, wer sich ihrem Platz nähert. Anhand einer buntgemusterten Bluse ist die mutmaßliche Täterin schnell identifiziert: Es ist die Schulsekretärin Friederike Kuhn (Eva Löbau), deren aufgeweckter Sohn Oskar (Leo Stettnisch) in Carlas siebte Klasse geht. Doch die vermeintliche Diebin, deren Gesicht nicht auf dem Video zu sehen ist, streitet alles ab – und geht zum Gegenangriff über.

Das Lehrer*innenkollegium ist von Carlas heimlicher Videoaufnahme, mit der sie die Persönlichkeitsrechte ihrer Kolleg*innen verletzt hat, alles andere als begeistert und bald wächst auch unter den Schüler*innen und Eltern der Unmut. Verzweifelt versucht Carla, die Wogen zu glätten. Oskar, den die anderen Kinder wegen der Diebstahlvorwürfe ausgrenzen, tut dagegen alles, um seine Mutter zu schützen, und rebelliert. Auf dem Elternabend greift Oskars Mutter Carla öffentlich verbal an und unterstellt ihr Bespitzelung, Denunziation und Verleumdung. Als noch dazu das Team der Schülerzeitung ohne vorherige Abnahme ein Interview mit Carla veröffentlicht und Friederike Kuhn in dem Heft zu Wort kommen lässt, droht die Situation am Gymnasium vollends zu eskalieren. Unaufhaltsam steigt der Druck auf Carla.

Regisseur İlker Çatak, geboren 1984 in Berlin, stellt in DAS LEHRERZIMMER eine junge Gymnasiallehrerin in den Mittelpunkt, die versucht, trotz immensem Druck von allen Seiten in einem von Vorurteilen und verkrusteten Strukturen geprägten Schulsystem ihren Idealen treu zu bleiben, die Wahrheit herauszufinden und sich richtig zu verhalten. Dabei gelingt es Çatak, von Anfang an eine unbehagliche Spannung aufzubauen, die sich im Laufe des Films immer mehr steigert.

Hauptdarstellerin Leonie Benesch (BABYLON BERLIN), die bereits als Teenagerin in DAS WEISSE BAND beeindruckte, war European Shooting Star der Berlinale 2023. Vor allem Benesch, die in jeder Szene zu sehen ist, trägt den atemlosen, packenden Film, der nahezu ausschließlich im Schulgebäude spielt, wo das Gefühl der Bedrohung kontinuierlich ansteigt. Leonie Beneschs herausragendes, nuanciertes und genaues Spiel spiegelt, wie die Ereignisse in der Schule aus dem Ruder laufen.

Besonders hallen die eindrücklichen Szenen nach, in denen İlker Çatak und Kamerafrau Judith Kaufmann, die im 4:3-Format oft nah an Carlas Gesicht bleibt, die psychische Belastung spürbar machen, der Carla ausgesetzt ist. So flüchtet sie angesichts der Anschuldigungen von Friederike Kuhn auf dem Elternabend auf die Schultoilette und erleidet dort eine Panikattacke. Als immer mehr Vorwürfe gegen sie laut werden, sieht sie eine bedrohlich anmutende Masse von Schüler*innen, die alle die verräterischen orange-weißen Blusen tragen, im Gleichschritt über den Schulflur laufen.

Carla Nowak ist eine komplex angelegte Figur, die auf der Suche nach der Wahrheit auch Fehler machen und sich verrennen darf. Dabei entwickelt sich die Lehrerin, die in ihrem Beruf aufgeht, mehr und mehr zur Einzelkämpferin, die droht, im Strudel der Geschehnisse unterzugehen. David gegen Goliath, Carla gegen alle anderen. Über Carlas private Hintergründe erzählt Çatak kaum etwas – allein Carlas Verhalten in ihrem Arbeitsumfeld zählt.

Dabei versteht İlker Çatak, der mit seinem Co-Autor Johannes Duncker auch das Drehbuch schrieb, ausführlich recherchierte und u. a. mit einigen Lehrer*innen, Rektor*innen und Schulpsycholog*innen sprach, die Schule nicht nur als spannenden Schauplatz für einen Film, sondern auch als Mikrokosmos und Abbild der Gesellschaft. Es geht um den Umgang mit Fehlern und miteinander, um Vorurteile und Missverständnisse, um Klassismus und Rassismus – und um Macht.

Die Szenen, in denen Ali, der zu Unrecht des Diebstahls verdächtigte Schüler aus einer Familie mit türkischer Zuwanderungsgeschichte, gemeinsam mit seinen Eltern befragt wird, bleiben im Gedächtnis, denn wie sich schnell herausstellt, ist Ali unschuldig. Seine Eltern haben ihm das in seinem Portemonnaie gefundene Geld für ein Computerspiel mitgegeben.

Doch im Lehrerzimmer sprechen die Lehrer*innen weiterhin über Ali. „Wisst ihr eigentlich, was die beruflich machen, die Eltern?“ fragt Thomas Liebenwerda (Michael Klammer). „Der Vater fährt Taxi, glaube ich“, erwidert Vanessa König (Sarah Bauerett) in ähnlich herablassendem Ton. Carla, deren Eltern aus Polen nach Deutschland kamen, entgegnet: „Was tut das zur Sache?“

Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt nicht im Lehrerzimmer, auch wenn Carla das im Interview mit der Schülerzeitung behauptet. Die Konflikte, aber auch die Vorurteile, die im titelgebenden Lehrerzimmer vorherrschen, übertragen sich auf die Kinder und Jugendlichen – und vervielfältigen sich.

İlker Çatak nimmt mit dem Gymnasium in einer unbestimmten Stadt, das in einem beliebig wirkenden 1960er-Jahre-Gebäude untergebracht ist und für viele Schulen in ganz Deutschland stehen könnte, einen Ort in der Mitte der Gesellschaft und damit einen relevanten und nicht nur angesichts des eklatanten Lehrer*innenmangels brisanten gesellschaftlichen Raum in den Blick. Denn Çatak wirft Fragen auf, die nach Verlassen des Kinosaals sicher Diskussionen auslösen: Was macht eine gute Lehrkraft aus? Wie sollte man an Schulen mit Fehlern – egal von welcher Seite – umgehen? Was macht es mit einzelnen jungen Lehrer*innen, die gern vieles ändern würden, wenn sie auf rückständige Machtverhältnisse und vorurteilsbehaftete, diskriminierende Strukturen treffen? Wie ließe sich das in vielerlei Hinsicht veraltete, hierarchische Schulsystem von innen heraus revolutionieren?

İlker Çatak gewann für ES GILT DAS GESPROCHENE WORT beim Deutschen Filmpreis 2020 die Lola in Bronze für den besten Film. Dem atmosphärisch dichten, äußerst glaubwürdig gespielten und inszenierten DAS LEHRERZIMMER, der in der Sektion Panorama der Berlinale 2023 zu sehen war und im Rahmen dessen bereits den Cicae Art Cinema Award und den Label Europa Cinemas-Preis gewann, sind zahlreiche weitere Auszeichnungen und viele interessierte Zuschauer*innen zu wünschen.  

Stefanie Borowsky

DAS LEHRERZIMMER; Regie: İlker Çatak; Darsteller_innen: Leonie Benesch, Michael Klammer, Rafael Stachowiak, Eva Löbau u.v.a.; Kinostart: 4. Mai 2023