DISCO BOY von Giacomo Abbruzzese
Psychedelische Kriegsführung
Es gibt Spielfilme, die ihre Handlung lediglich als Grundgerüst für eine metaphysische Erzählweise verwenden. Das Langfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese, das im Wettbewerb der 73. Berlinale gezeigt wird, überschreitet jegliche Genrekonventionen, um eine transzendentale Geschichte über den Krieg und nationale Identitäten zu erzählen. Darin überqueren der Belarusse Aleksei (Franz Rogowski) und sein Freund Mikhail als Fußballfans getarnt in einem Reisebus die Grenze nach Polen, um auf diesem Weg nach Frankreich zu gelangen. Das Land des Bordeaux-Weins und des „La vache qui rit“-Käses, wie sie sich erzählen. Als sie nachts durch die Oder nach Deutschland schwimmen, werden sie von Grenzpolizisten entdeckt. Aleksei gelingt die Flucht, doch Mikhail bleibt auf der Strecke. Irgendwie erreicht Aleksei schließlich die französische Hauptstadt und wird als Soldat in der Fremdenlegion aufgenommen. Währenddessen kämpft Jomo (Morr Ndiaye) als Guerillakämpfer im Nigerdelta gegen rücksichtslose Ölfirmen. Seine Rebellengruppe entführt dabei französische Staatsbürger, während seine Schwester Udoka (Laëtitia Ky) diesen Kampf als verloren ansieht und fliehen will.
Die Geschichte von DISCO BOY wird in Momentaufnahmen erzählt, lückenhafte Ausschnitte, die von Ort zu Ort wechseln und Leerstellen offen lassen. Wir bekommen die Sehenswürdigkeiten von Paris zu Gesicht, folgen Aleksei durch die harten Trainingseinheiten in der Fremdenlegion und beobachten den Interviewversuch einer sensationshungrigen VICE-Reporterin mit Jomo und seinen bewaffneten Kämpfern auf einem Fischerboot in Nigeria. Während die Bildgestaltung der Kamerafrau Hélène Louvart, welche bereits mit mit Eliza Hittman (NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS) und Alice Rohrwacher (HAPPY AS LAZARRO) zusammengearbeitet hat, zu Beginn noch naturalistisch anmutet, wird die visuelle Ebene zunehmend abstrahiert. Die brutale Konfrontation von Jomo und Aleksei bei einem Gefecht zwischen den Kontrahenten im Dschungel löst sich im Stil einer militärischen Wärmebildkamera in grelle Farbflächen auf. Zurück in Paris kämpft Aleksei mit seinen Kriegserfahrungen und glaubt, Udoka als schillernde Tänzerin mit einem goldbraunen Auge in einem bunt erleuchteten Nachtclub gesehen zu haben. Untermalt sind diese Szenen mit dem wabernden Drone-Soundtrack des Musikers Vitalic (THE LEGEND OF KASPAR HAUSER).
Ähnlich wie Bertrand Bonellos faszinierende Reflexion über die fiktiven Ausschreitungen von jugendlichen Terroristen in NOCTURAMA ist Giacomo Abbruzzese nicht an einer Analyse von psychologischen oder politischen Kontexten interessiert. Vielmehr geht es ihm um eine symbolische Gegenüberstellung der Schicksale. Die Schauspieler, allen voran Franz Rogowski, spielen keine klar ausgearbeiteten Figuren mit erkennbarer Motivation, sondern driften als Phantome durch die Szenerie. Auf der einen Seite steht der Soldat „Sans Papiers“, der mit Hoffnung auf die französische Staatsbürgerschaft seine Identität aufgegeben hat. Auf der anderen Seite steht der Guerillakämpfer, der mit den Folgen des französischen Imperialismus konfrontiert wird. Sie wurden zu Gegenspielern gemacht und in einen militärischen Konflikt hineingezogen, der nicht der ihre ist. In halluzinativen Flashbacks sieht sich Aleksei im Pariser Nachtleben mit den Opfern seines Militäreinsatzes konfrontiert.
Da DISCO BOY weder narrative Erklärungen liefern will, noch seine Handlung vollständig in der audiovisuellen Abstraktion auflösen kann, lässt das Resultat etwas ratlos zurück. Was bleibt, ist eine eigenwillig gestaltete Metapher, die wie ein abendfüllendes experimentelles Musikvideo anmutet und eindrucksvolle stilistische Momente zu bieten hat. Weil dieser rätselhafte psychedelische Trip ins Herz der Finsternis jedoch so dissoziativ erscheint und keinen kohärenten Stil entwickelt, wirkt es stellenweise so, als sei der Film nicht mehr als die Summe seiner Teile.
Henning Koch
DISCO BOY, Regie: Giacomo Abbruzzese, Darsteller*innen: Franz Rogowski, Morr Ndiaye, Laëtitia Ky, Leon Lučev, Matteo Olivetti