IM TOTEN WINKEL von Ayşe Polat


IM TOTEN WINKEL © Mitosfilm

Schmerzgedächtnis

Schauplatz von Ayşe Polats IM TOTEN WINKEL ist der überwiegend von Kurd_innen bevölkerte Teil im Osten der Türkei.
Dorthin macht sich die deutsche Reporterin Simone begleitet von ihrem Kameramann auf, um Hatice für ein Filmprojekt zu interviewen. Die alte Frau erinnert sich und ihr ganzes Dorf an jedem Freitag an ihren verschwundenen Sohn, indem sie ihre Suppe kocht, einen Teller für ihr geliebtes Kind beiseite stellt und anschließend an jeder Türe im Ort Halt macht und ihre Nachbarschaft dazu einlädt. Auch 25 Jahre nach dem Verschwinden des jungen Mannes – wobei „Verschwinden“ ein Chiffre für Verschleppung bzw. Ermordung zu lesen ist – bleibt er so in aller Erinnerung. Damit passt die Dame perfekt zu Simones Idee, immaterielle Denkmäler zu bebildern.

Ob ihr Aufenthalt nun Anstoß des Dramas ist, das sich im Folgenden abspielen wird oder doch „nur“ eine Facette des Alltags dort, spielt letztendlich keine übergeordnete Rolle.
Simones Kontaktmann zu Hatice ist ein kurdischer Anwalt, der mit dem Fall vertraut ist. Um ihn interviewen zu können – der Mann scheint einerseits sehr beschäftigt, aber andererseits auch getrieben oder gar verfolgt – engagiert Simone die junge Übersetzerin Leyla, der deren Nachbarstochter, die kleine Melek, kaum von der Seite weicht. Leyla scheint ihr Anker im Hier und Jetzt zu sein, wenn das süße Mädchen wieder mal von Geistern heimgesucht wird.
Das spüren auch die Eltern des Kindes, die natürlich nichts gegen die kurdische Minderheit haben, wie die Mutter sagt, aber Leyla doch nachdrücklich bittet, ihr nur Englisch beizubringen und keine kurdischen Vokabeln. Das sei peinlich und bringe nur Probleme mit sich.

Melek verbindet alle drei Kapitel, die für drei unterschiedliche Perspektiven stehen, mit denen Ayşe Polat IM TOTEN WINKEL erzählt. So erfahren wir, dass Hasan, Meleks Vater, die Dreharbeiten zu Simones Reportage beobachtet und einer unsichtbaren aber anwesenden Macht darüber berichtet. Das hat Folgen – und zwar für alle Beteiligten.

Bald wird aus Paranoia reale, tödliche Gefahr, spielen höhere Mächte ein Spiel, bei dem keiner dem anderen trauen kann und soll, zählen Menschenleben nichts, wenn sie der Sache auch nur schaden könnten. Die Sache, das meint Hass auf ein Volk ohne Land. Das meint Unterdrückung von Schwächeren.
Die deutsch-kurdische Regisseurin Polat wurde in Malatya, in Osten der Türkei, der kurdischen Region, geboren, und ist in Hamburg aufgewachsen. Gerade hat ein schweres Erdbeben die Region erschüttert und eine Katastrophe angerichtet. Als wäre das Leben dort nicht schon schwierig genug.

IM TOTEN WINKEL handelt von Traumata, die sich über Generationen fortpflanzen, die meisten entstehen durch Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen antun. Polaks Politthriller ist packend und spannend – ihr Thema wohl leider nicht nur Fiktion.

Denis Demmerle

IM TOTEN WINKEL; Regie: Ayşe Polat; Darsteller_innen: Katja Bürkle, Ahmet Varlı, Çağla Yurga, Aybi Era, Maximilian Hemmersdorfer, Kinostart: 4. Januar 2024