L’AMOUR DU MONDE – SEHNSUCHT NACH DER WELT von Jenna Hasse


L’AMOUR DU MONDE © Langfilm

Unerfüllte Sehnsüchte

Die fast 15-jährige Margaux (Clarisse Moussa) verbringt die Sommerferien bei ihrem Vater, der übergangsweise in einem Hotel am Genfersee lebt. In dem kleinen Ort macht Margaux ein Praktikum in einem Kinderheim und trifft dort auf Juliette (Esin Demircan), eine aufsässige Siebenjährige, die gern ausbüxt. Als die Kinder mit den Betreuer*innen einen Ausflug an den See unternehmen, ist Margaux nur einen Moment lang unaufmerksam und knipst ein Foto von einem Schiff auf dem See, da ist die kleine Juliette ihr schon entwischt. Der junge Fischer Joël (Marc Oosterhoff) fischt Juliette aus dem Wasser. Nachdem Margaux Joël zum ersten Mal begegnet ist, fühlt sie sich schon bald zu ihm hingezogen.

Im Laufe des Sommers am See entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den drei so unterschiedlichen jungen Menschen. Während die nachdenkliche Margaux, deren Vater vor allem mit sich selbst und seiner neuen Freundin Carole (Mélanie Doutey) beschäftigt ist, sich im Kino oder am See in die Ferne hinwegträumt, wartet die kleine Halbwaise Juliette meistens vergeblich darauf, von ihrem Vater abgeholt zu werden. Joël dagegen, der für eine Weile in Indonesien gelebt hat und nach dem Tod seiner Mutter in die Schweiz zurückgekehrt ist, weiß nicht, wie und wo es für ihn weitergehen soll.

Die im Kanton Waadt in der Genferseeregion als Tochter eines Portugiesen und einer Schweizerin aufgewachsene Regisseurin, Drehbuchautorin und Schauspielerin Jenna Hasse, geboren 1989 in Lissabon, legt mit L’AMOUR DU MONDE ihren ersten Langspielfilm vor. Darin führt sie die Geschichte ihres Alter Egos Margaux fort, die sie bereits zur Hauptperson ihrer Kurzfilme EN AOÛT (2014), den sie bei der Quinzaine des Réalisateurs 2014 in Cannes präsentierte, und SOLTAR (2016) machte.

Jenna Hasse, die gemeinsam mit Nicole Stankiewicz und Julien Bouissoux auch das Drehbuch zu L’AMOUR DU MONDE schrieb, erschuf Margaux aus einer Mischung aus eigenen Erfahrungen und denen anderer Frauen aus ihrem Umfeld, besonders aus ihrer Familie. In EN AOÛT war ebenfalls Clarisse Moussa als Margaux zu sehen, die ihre Rolle der introvertierten und auf ganz eigene Art rebellischen Teenagerin Margaux ebenso wie die anderen jungen Hauptdarsteller*innen überzeugend verkörpert.

Als Inspiration für ihren Film diente Jenna Hasse außerdem der gleichnamige Roman „L’amour du monde“ 1928) von Charles-Ferdinand Ramuz, der ebenfalls am Genfersee spielt und Protagonist*innen versammelt, die sich dort wie Hasses drei Sommerfreund*innen zwischen dem Wunsch, aus der Realität zu flüchten, und der Akzeptanz des aktuellen Zustands hin- und hergerissen fühlen.

Neben dem See dient Margaux auch das kleine Dorfkino zum Eskapismus. Als sie sich eines Tages allein ins Kino schleicht, läuft dort der Film L’ATLANTIDE (1932) mit Brigitte Helm in der Rolle der Antinea, der starken und schönen Herrscherin von Atlantis. Auf die 14-jährige Margaux scheint die ausdrucksstarke Schauspielerin eine besondere Faszination auszuüben. Abends allein im Hotel bewundert Margaux den Schatten ihres eigenen Körpers an der Wand.

In eindrücklichen, teils fast traumartigen Bildern fängt Jenna Hasse die verzauberte Atmosphäre dieses Sommers ein. Für alle drei Freund*innen bildet der See immer wieder einen Zufluchtsort und spielt somit eine der Hauptrollen. Doch der Genfersee, der einerseits Weite und Ferne verspricht, anderseits aber von Bergen umringt und eingeengt wird, spiegelt auch das Gefühl der drei zwischen der Sehnsucht nach Aufbruch und den Zwängen der äußeren Umstände wider.

Einen mythischen Überbau bekommt der See zudem durch eine Legende, die Joël aus Indonesien kennt: Die Reiher am See, die einige Male in den Bäumen oder am Ufer zu sehen sind, sollen umherirrende Seelen tragen. Diese Seelen seien Geister, Menschen die gestorben seien, erklärt Margaux der kleinen Juliette, die daraufhin überzeugt davon ist, ein Reiher, der ihnen ständig folge, sei ihre verstorbene Mutter.

L’AMOUR DU MONDE ist ein leiser, atmosphärisch dichter Coming-of-Age-Film, in dem Jenna Hasse sommerlich-melancholische Bilder für die unvergessliche Stimmung des ersten Verliebtseins findet. Doch es geht auch um Zukunftsträume, Einsamkeit, Abschiede, Trauer, unerfüllte Sehnsüchte – und um eine Freundschaft zwischen Menschen, die mehr verbindet, als es auf den ersten Blick scheint. Über allem liegt die Magie, aber auch die Flüchtigkeit dieses einen Sommers, in dem sich alles ändert.

Stefanie Borowsky