73. Berlinale: SONNE UND BETON von David Wnendt
Mein Block – Der Film
Berlin-Gropiusstadt im Sommer 2003. Lukas, Gino und Julius sind 15 und wachsen in ärmlichen Verhältnissen in der Plattenbausiedlung auf. Täglich gibt es Stress zu Hause, auf der Straße oder in der Schule, wenn sie denn überhaupt hingehen. Die Eltern und Lehrer sind mit den Jugendlichen komplett überfordert. Nach einer Schlägerei mit ein paar Dealern im Park fordern diese 500 Euro Schutzgeld von Lukas. Doch wo soll er das Geld herbekommen? Da bringt der gerade erst aus Marzahn zugezogene Klassenkamerad Sanchez sie auf eine Idee: Warum nicht nachts in die Schule einbrechen, um die neu angeschafften Computer zu klauen? Sie machen sich auf, um den Plan in die Tat umzusetzen. Doch dabei geht so einiges schief …
Die als „kompromisslose Verfilmung“ des gleichnamigen Bestsellers von Felix Lobrecht beworbene Teenie-Karikatur SONNE UND BETON kommt mit betont grobem Slang und einem ungeschönten Verhalten der Jugendlichen daher. Etwas, das man im mit öffentlichen Mitteln geförderten deutschen Kino nur selten zu sehen bekommt. Sie folgt den vier Protagonisten durch den Alltag und zeigt ihre Freundschaft und den brüderlichen Zusammenhalt, mit dem sie allen widrigen Lebensumständen trotzen. Die 15-jährigen Laiendarsteller in den vier Hauptrollen, die in einem bundesweiten Castingprozess aus mehr als 5.000 Jugendlichen ausgewählt wurden, geben wirklich ihr Bestes. Doch damit kommen sie nicht gegen die laute und in jeder Hinsicht überzeichnete Inszenierung und die unentschlossene Dramaturgie an, welche weder Problemfilm noch Komödie sein will. Wenn Themen wie häusliche Gewalt, rassistische Lehrer an der Schule oder Suizidversuche mit plumpen FACK JU GÖHTE-Kalauern kombiniert werden, führt dies dazu, dass die Figuren und die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht ernst genommen werden können. Vor allem gegen Ende schlagen die zahlreichen Handlungsbögen nach einer überlangen Laufzeit von zwei Stunden vollkommen über die Stränge, bis ein aufgesetzt wirkender versöhnlicher Ton angeschlagen wird.
Dabei hat der Regisseur David Wnendt offensichtlich versucht, eine deutsche Variante von LA HAINE – Mathieu Kassovitz‘ stilprägendem Meisterwerk der französischen Hip-Hop-Kultur – zu erschaffen. Während das Vorbild aus den 90er Jahren mit einer ikonischen Inszenierung, authentischen Schauspielern und einer gesellschaftlichen Relevanz überzeugen konnte, erscheint das gezeigte Milieu hier wie ein schwaches Abziehbild aus einem Musikvideo. Wenn eine Party unter freiem Himmel (hier auf dem Dach einer U-Bahn-Station) von der Polizei aufgelöst wird oder die Freunde im Streit um eine gefundene Pistole aneinandergeraten, dann wirken diese Szenen und Figurenkonstellationen bis hin zur Wahl der Kameraeinstellungen so exakt vom Sitznachbarn abgeguckt, dass man beim besten Willen nicht mehr von einer liebevollen Hommage sprechen kann.
SONNE UND BETON ist als Jugendfilm konzipiert und richtet sich sicherlich nicht an die Filmkritiker bei der Berlinale als Zielgruppe – das ist klar. Doch ob die heutige Jugend sich mit Sidos Arschficksong (den Lukas in seinem Zimmer spielt) und den popkulturellen Anspielungen um das Label Aggro Berlin & Co. identifizieren kann, scheint fragwürdig. Auch Sido ist erwachsen geworden und blickt aus einem anderen Blickwinkel auf seine Karriere zurück. Wahrscheinlich wurde deshalb gleich eine ganze Reihe von Cloud Rappern der neuen Generation wie Luvre47, Lucio101, Azzi Memo oder Olexesh mit millionenfachen Klicks bei Spotify und YouTube in den Nebenrollen gecastet, um den Film irgendwie interessant zu machen.
Lange vorbei ist die Zeit, als die Mediendebatte um die Neuköllner Rütli-Schule (die hier offensichtlich zitiert wird) und die faszinierte Auseinandersetzung mit Bettina Blümners Kreuzberger Milieustudie PRINZESSINNENBAD in den Feuilletons für Gesprächsstoff sorgten. Somit kommt SONNE UND BETON rund zwei Jahrzehnte zu spät und hat wie seine pubertären Figuren mangels kritischer Distanz hinter einer großen Fresse nur wenig zu bieten.
Henning Koch
SONNE UND BETON, Regie: David Wnendt, Darsteller*innen: Levy Rico Arcos, Rafael Luis Klein-Heßling, Vincent Wiemer, Aaron Maldonado-Morales
Termine bei der 73. Berlinale:
Samstag, 18.02.2023, 22:00 Uhr, Berlinale Palast
Sonntag, 19.02.2023, 09:00 Uhr, Verti Music Hall
Montag, 20.02.2023, 18:00 Uhr, UCI Luxe Gropius Passagen (Berlinale Goes Kiez)
Dienstag, 21.02.2023, 17:00 Uhr, JVA Plötzensee (Berlinale Goes Kiez)
Samstag, 25.02.2023, 21:00 Uhr, Cineplex Titania
Samstag, 25.02.2023, 22:00 Uhr, Verti Music Hall
Kinostart: 02. März 2023