AUF DER ADAMANT von Nicolas Philibert


SUR L’ADAMANT © TS Production / Longride

Wer darf wie über Menschen mit psychischen Erkrankungen sprechen? Und wenn ich mich entscheide, einen Film über das Thema zu machen: Wie zeige ich die Individuen und nicht nur die Krankheit? Das sind wichtige Fragen, die Nicolas Philibert als Regisseur von AUF DER ADAMANT, der bei der 73. Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, laut Pressekit auch umgetrieben haben, bevor er an die Recherche ging.

Philibert und sein Team wurden bei der Preisverleihung der Internationalen Filmfestspiele Berlin für ihren humanen, humanistischen Anspruch geehrt und dazu passend lernen wir die Patient*innen in der Tagesklinik nicht über Pathologien, Diagnosen und leicht erkennbare Symptome kennen, nicht über die Aktenverweise. Stattdessen erleben wir sie zwei Stunden lang in ihrem Alltag. In der Maltherapie, bei der Buchhaltungsrunde (die auch als Ordnungs- und Struktur-Einheit funktioniert), bei den Tagessitzungen, beim Kaffee trinken und Essen, beim Singen und Musizieren, beim Rauchen und in die Gegend schauen. Der Ort ist dabei nicht zufällig gewählt: Die auf der Seine schwimmende Boots-Tagesklinik ADAMANT ist bekannt in Paris für ihre individuell zugeschnittene Gruppenarbeit, für ihr empathisches, geschultes Personal.

Philiberts AUF DER ADAMANT verfolgt keine erkennbare Chronologie oder Systematik: zufällig herausgesuchte, „besondere“ Biografien bekommen mehr Kamerazeit, andere weniger. Die Zuschauer*innen werden berührt und bisweilen unterhalten durch die Menschen und ihre Schicksale, zum Beispiel durch die Mutter, der das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen wurde. Oder durch eine immer wieder auftretende Patientin, die eine herrliche Gottesanbeterin mit Fliege um den Hals malt und erklärt, diese habe sich eben für den Verzehr des Gatten schick gemacht.

Oft stellt sich beim Gucken die Frage: Darf ich jetzt lachen, oder lache ich dann jemanden aus? AUF DER ADAMANT scheint das komischerweise etwas egal zu sein. Und vielleicht ist es ja auch so, dass alle einverstanden waren mit den mitlaufenden Kameras und sich selbst nicht stören würden an der Darstellung ihrer Krankheiten. Mitlachen würden. Darunter vermutlich der gut gelaunte Doppelgänger von Houellebecq mit Zeichenkladde unterm Arm, der der Überzeugung ist, dass seine Biografie mit Celebrity-Begegnungen, gar Freundschaften durchzogen ist. Lou Reed, so erklärt er einmal, sei von ihm inspiriert worden. Aber in vielen Fällen entsteht der Humor eben aus den Diskrepanzen zwischen den Wahrnehmungen aus „Normalität“ und „Krankheit“, und da kann das Lachen sich schon mal falsch und unpassend anfühlen.

Houellebecq, nur in gut gelaunt? SUR L’ADAMANT © TS Production / Longride

Es ist außerdem ambivalent bis schwierig, dass der Film mit seiner teilnehmenden Beobachtung keine Reibungen ausmacht, die System aus Patient*in und Therapeut*in kritisch beleuchten – so vorbildlich der Ort an sich auch sein mag. AUF DER ADAMANT ist damit eine etwas zu glatte Hommage an die Tagesklinik, die wir immer nur im laufenden Betrieb und nie „hinter den Kulissen“ erleben. Dabei spüren wir doch, dass auch die vorbildlichste und auf Augenhöhe ausgerichtete Psychiatrie überhaupt ohne Autoritäten nicht auskommt. So ist beispielsweise die Maltherapie ganz klar in die kreative Arbeit und die Präsentation gegliedert, bei der die Patient*innen ihre fertigen Zeichnungen erklären sollen und dabei zum Teil auch in ihrer Wahrnehmungswelt korrigiert werden („das sieht aber nicht aus wie ein Baby, das ist doch eine junge Frau“). Und über die Einnahme von Psychopharmaka sehen wir lediglich zwei Patient*innen in den höchsten Tönen sprechen.

In der filmisch interessantesten Stelle wird die Arbeit der Therapeut*innen einmal wirklich sichtbar und herausgefordert: Als eine ältere Patientin mit starkem Bewegungsdrang anmerkt, dass ihr wiederholtes Ansinnen, einmal für die Mitpatient*innen einen Tanz-Workshop ausrichten zu können, scheinbar nicht gehört oder ignoriert wird. Hier bricht offen zutage, was bestimmt manchmal Teil der ständigen Aushandlungen des therapeutischen Prozesses ist: Dass Patient*innen nämlich nicht immer glücklich sind mit dem System, dass sie es herausfordern, manchmal überfordern – und vielleicht sogar mitverändern möchten. Aber es ist nur ein kleines Moment, das schnell wieder verpufft, andere Betrachtungen dieser Art sucht man vergebens.

So bleibt AUF DER ADAMANT auf der Oberfläche einer bisweilen etwas sentimental anmutenden Langzeitbeobachtung haften, die mit zugegeben sehr schönen, intimen Momenten aufwartet.

Marie Ketzscher

AUF DER ADAMANT; Regie: Nicolas Philibert