74. Berlinale: BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ von Markus Stein


BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ © Schwules Museum Berlin, Leihgabe Aron Neubert

„Kunst und Ficken“

„Ich bin interessiert an Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und ihre Mitte gefunden haben.“ Mit diesen Worten hat Jürgen Baldiga sich einst in einem Tagebucheintrag beschrieben. 1979 zog er als Sohn eines Bergarbeiters aus dem Ruhrpott nach Westberlin, wo er seinen Vorstellungen von einem offen schwulen Leben und Schaffen nachgehen wollte. Als Lebenskünstler, Koch und Stricher, als Lyriker, Punksänger und Maler – und als Fotograf. Mit BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ folgt der Filmemacher Markus Stein dem Vermächtnis einer extremen Persönlichkeit, die extreme Ausdrucksformen gesucht hat. Im Fokus stehen Baldigas kontrastreiche, körnige Schwarzweißfotografien, in denen er sich nicht scheute, seine Triebe als spontane Schnappschüsse zu inszenieren: bei Partys, zu Hause, in der Öffentlichkeit und auf den Klappen der Stadt. Der Dokumentarfilm kombiniert diese Bilder mit Zitaten aus seinen Tagebüchern, Interviews mit Wegbegleiter*innen, Archivaufnahmen von Performances und einigen nachgestellten Szenen. Viele der Materialien waren bereits in Jasco Viefhues‘ Dokumentation RETTET DAS FEUER von 2019 (ebenfalls im Verleih von Salzgeber) zu sehen, die sich ihm anhand seines im Schwulen Museum Berlin archivierten Nachlasses und lebhaften Anekdoten von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen annäherte.

BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ wählt eine stärker biografisch geprägte Herangehensweise. Neben relevanten Stationen aus seinem Lebenslauf und seiner Kunst geht es vor allem um die HIV-Infektion, mit der Baldiga 1984 diagnostiziert wurde. Zu diesem Zeitpunkt fiel ihm ein Buch der amerikanischen Fotografin Diane Arbus in die Hände und er begann, sein Leben und sein Umfeld in schonungslosen Bildern festzuhalten. Meist konfrontativ und gegen die heteronormativen Vorstellungen seiner Zeit gerichtet, häufig explizit und mit Beginn seiner AIDS-Erkrankung – die damals einem Todesurteil gleichkam – zunehmend verletzlich. Stein geht dabei nicht streng chronologisch vor, sondern blickt auch auf Baldigas Jugend zurück, in der dieser erste Erfahrungen als minderjähriger Prostituierter am Essener Hauptbahnhof machte. Neben Erzählungen von seiner Schwester Birgit Baldiga werden diese Erlebnisse als nachgespielte Momentaufnahmen wiedergegeben, in denen seine Figur ohne erkennbares Gesicht von einem Darsteller verkörpert wird. Gerade in diesem Zusammenhang wirken die fiktiven Szenen fehl am Platz, da sie den Schilderungen keine weitere Sinnebene hinzufügen können. Ebenso verliert Stein stellenweise den Fokus, wenn er Baldigas Erkrankung im Kontext des Umgangs mit HIV und AIDS in den 1980er und 90er Jahren thematisieren möchte. Während die selbsterklärten Tunten aus dem Umfeld des SchwuZ-Clubs die Stigmatisierung der Krankheit und die Organisation von Selbsthilfe-Aktionen aufzeigen, erscheinen die Interviews mit Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen zur Symptomatik überflüssig, da Baldiga seinen Leidensweg bis zu seinem Suizid im Jahr 1993 auf drastische Weise in Bildern und Tagebucheinträgen dokumentiert hat. Diese persönlichen Einblicke an der Seite seines letzten Partners Ulf Reimer vermitteln den aussichtslosen Kampf gegen die „Krankheit der Anderen“ effektiver, als medizinische Details dies können.

Trotz dieser formalen Schwächen ist BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ ein eindrucksvolles Porträt eines Pioniers, der als einer der ersten schwulen Männer in Deutschland auch mit seiner AIDS-Erkrankung an die Öffentlichkeit ging. Dabei wird er nicht als Held stilisiert, sondern auch in fragwürdigen Momenten gezeigt. Beispielsweise als er trotz des Wissens über seine HIV-Infektion weiterhin die Klappen für ungeschützten Geschlechtsverkehr aufsuchte ohne sich dafür verantwortlich zu fühlen, dass er damit eine Ansteckung anderer riskiere. Er würde ihnen ja sagen, dass er infiziert sei, falls sie denn danach fragen, wie er in einem Tagebuch notierte. In diesen komplexen Zusammenhängen wird die Geschichte eines Mannes dargestellt, der als Künstler, Bürgerschreck, Betroffener und vor allem als Mensch die Probleme seiner Zeit thematisierte und eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Westberliner Schwulenszene und der Wahrnehmung von HIV und AIDS in Deutschland ermöglicht.

Henning Koch

BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ; Regie: Markus Stein; Darsteller*innen: Jürgen Baldiga, Timo Lewandovsky, Bernd Boßmann, Ulf Reimer, Birgit Baldiga