74. Berlinale KOTTUKKAALI (THE ADAMANT GIRL) von Vinothraj PS


THE ADAMANT GIRL © Sivakarthikeyan productions
THE ADAMANT GIRL © Sivakarthikeyan productions

On the road to nowhere

Eine Frau wäscht sich im Morgengrauen, läuft lang durch die Stadt, zündet eine Kerze an. Um sie wird es hell, doch sie bleibt mehr Schatten als Figur, eine unheimliche, fast gesichtslose Gestalt. Wer ist sie? Ist sie der Teufel? Was ist ihre Mission? Geht es hier mit rechten Dingen zu?

Schon in den ersten Minuten, die der Kameramann Sakthi Vel B mit einer atmenden Kamera einfängt, ist das Publikum mit dem Zweifel konfrontiert, wen genau wir eigentlich bei dem dann folgenden Exorzismus-Roadtrip begleiten. Die Mutter, die das frühmorgendliche Opfer darbringt, ist es nicht, aber ist es wirklich ihre Tochter, Meena, THE ADAMANT GIRL (das „beharrliche“ oder starrköpfige Mädchen), der sie ein Bindi auf die Stirn malt und der ihre Liebe für den Geliebten aus niederer Kaste ausgetrieben werden soll?

Für den ungewöhnlichen Roadtrip werden jedenfalls alle engen Familienmitglieder von Meena und Pandi, dem sie doch eigentlich versprochen war, mobil gemacht. Mit Zwei Mopeds und einem Tuktuk geht es durch die indischen Dörfer zum Seher, der die letzte Rettung für die Familien darstellt. Beide Familien wollen die Familienehre wiederherstellen, was in ihren Augen nur möglich ist, wenn Meena dem Anderen abschwört. Aber zwischendrin muss noch die Göttin der Familie besucht und besänftigt werden. Dazu braucht man eine frische Kokosnuss und andere Utensilien; alles hat seinen Platz.

Es sind diese aufgeladenen Gegenstände, die komplizierten und fast schon performativen Rituale sowie Aberglaube und ausgeleierte Binsenweisheiten, die den Plot voranzutreiben scheinen. Ganz so, als wäre alles Schicksal, als könne niemand selbstbestimmt und eigenständig handeln. Wenn ein Bulle im Weg steht – das bringt Unglück. Wenn Meenas kleiner Neffe zwischendrin aufs Klo muss – ein Omen. Überall lauert das Unglück, die Unglücksgötter. Nur die Verständigung über sie kann den Alltag, der nur von Arbeit und Hierarchie definiert ist, zusammenhalten, ihm Sinn verleihen.

Erst bruchstückhaft kristallisieren sich im Laufe des Films die Dynamiken heraus, wird deutlich, dass es sich bei allen Charakteren dann auch nicht um fleischgewordene Individuen, sondern um Gesellschaftstypen handelt. Pandi, der mit seiner fragilen Männlichkeit kämpft, und einmal nur mit Mühe und Not davon abgebracht werden kann, Meena zu erwürgen. Die beiden arbeitslosen und trinkenden Onkels, die sich vom wenigen Geld noch Brandy besorgen und nur davon reden, wie es wäre, reich zu sein. Und die jeweiligen Schwäger*innen, also Schwestern von Pandi und Meena, die ständig dazu ermahnt werden, den Mund zu halten. Als nichtswissende Frauen.

Überhaupt: Die Frauen in diesem Film. Brutal und in einfachen Bildern – denn sie organisieren alles, werden aber nie nur einen Moment ernst genommen; Meena schaut vor allem teilnahmslos in die Gegend und Lästern scheint den anderen die einzige Form der Selbstbehauptung – zeigt THE ADAMANT GIRL, welchen Stellenwert das weibliche Geschlecht vor allem in vielen ländlichen Gegenden Indiens hat. Nämlich gar keinen. Wir werden von Meena, von ihrer Liebe und dem damit vermutlich verbundenen Versuch der Emanzipation (den Geliebten hat sie während des Studiums außerhalb des Dorfs kennengelernt) nichts weiter erfahren. Sie wird genau einmal ihren Neffen anlächeln und einen Satz zu ihrer Schwägerin sprechen. Wir erfahren damit das, was alle über sie wissen – nichts. Das ist so konsequent wie großartig umgesetzt.

Es gibt keine Eskalation, keinen Plottwist, keine dramatische Steigerung, die Vinothraj PS‘ fantastischer, konzentrierter THE ADAMANT GIRL bereithält, es ist ein Familien-Roadtrip, der nichts ändern kann und zum Scheitern verurteilt ist – ob Meena zu ihrem vermeintlichen Liebhaber hält oder nicht. In einer der schönsten Szenen des Films halten die verzweifelten Familien, die beim Seher vorstellig werden, allesamt Hähne auf dem Schoß. Sie sind das schöne, gefiederte Beiwerk; Opfergaben, denen der Kopf abgehauen wird. Alle anders, alle gleich, recken die Hähen ihre Köpfe in die Gegend, picken herum, ihre Gefangenschaft und das ihnen blühende Schicksal nicht verstehend. Die reine Gesellschaft.

Weitere Termine bei der 74. Berlinale
Sonntag, 18.02., 22:00 Uhr, Akademie der Künste
Montag, 19.02., 21:30 Uhr, Arsenal 1
Dienstag, 20.02., 21:00 Uhr, Kino Betonhalle@Silent Green
Sonntag, 25.02., 21:00 Uhr, HKW 2 – Safi Faye Saal