74. Berlinale: LA COCINA von Alonso Ruizpalacios


LA COCINA © Juan Pablo Ramírez / Filmadora

Hell’s Kitchen

Das Restaurant The Grill am Times Square in New York. Hier gibt es für Touristen die Illusion vom kleinen Luxus mit Pommes, Soft Drinks und schlechtem Hummer für 40 Dollar plus Trinkgeld. An einem Freitagmorgen steht die junge Mexikanerin Estela (Anna Diaz) vor der Tür, denn sie hofft auf einen Job. Papiere hat sie keine, doch die braucht sie auch nicht, wie der Manager ihr mitteilt. Eine Social Security Number könne sie in einem Shop um die Ecke für 50 Dollar unter der Ladentheke kaufen, das sei hier so üblich. Sie kennt den Koch Pedro (Raúl Briones Carmona), denn sie kommen aus dem gleichen mexikanischen Dorf. Er ist ebenfalls als illegaler Migrant auf der Suche nach dem „American Dream“ in die USA gekommen, arbeitet seit ein paar Jahren im The Grill und hofft – wie die meisten der Mitarbeiter*innen – dass sein Chef ihm die notwendigen Einwanderungspapiere besorgt. Während zur Mittagszeit hunderte Bestellungen aufgegeben werden und das Küchenteam einen echten Knochenjob vollbringt, will der Restaurantbesitzer herausfinden, wer das Geld gestohlen haben könnte, das am vergangenen Abend aus der Kasse verschwunden ist. Zudem spitzt sich die Romanze zwischen Pedro und der amerikanischen Kellnerin Julia (Rooney Mara) zu, die schwanger geworden ist und gegen seinen Willen abtreiben will. Während der Drucker einen Bestellschein nach dem anderen ausspuckt, steigt die angespannte Situation in der Küche auf den Siedepunkt und droht zu eskalieren.

Der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios ist mit seinen Spielfilmen Stammgast bei der Berlinale. 2021 lief bereits UNA PELÍCULA DE POLICÍAS (A COP MOVIE) im Wettbewerb um den Goldenen Bären. Seine Tragikomödie LA COCINA basiert lose auf dem Bühnenstück „The Kitchen“ von Arnold Wesker aus dem Jahr 1959 und zeigt die Küche als symbolischen Konfrontationsort von soziopolitischen und persönlichen Schicksalen. Über die Außenseiter-Perspektive von Estela, die kein Englisch spricht und ohne Erfahrung in den chaotischen Restaurantalltag hineinstolpert, werden wir als Zuschauer in diese rastlose Arbeitsrealität katapultiert. Während Philip Barantinis britisches Drama BOILING POINT (2021) mit Stephen Graham eine ähnliche Herangehensweise wählte und den nervenaufreibenden Alltag in der gehobenen Gastronomie als minutiöses Reenactment darstellte, zeigt LA COCINA die problematischen Arbeitsbedingungen am Limit und die strengen Hierarchien vor und hinter dem Herd in bewusst überspitzter Form. Die Beziehung zwischen Julia und Pedro soll offensichtlich die klaren Grenzen innerhalb des Restaurants und der US-amerikanischen Gesellschaft repräsentieren. Hinten im sogenannten „Back of House“ schuften die Migrant*innen ohne Aufenthaltserlaubnis, vorne in der vermeintlich heilen Welt des „Front of House“ dienen die Kellner*innen dem gnadenlosen kapitalistischen System. Während an den Tischen ein falsches Lächeln zum guten Ton gehört, damit ein saftiges Trinkgeld winkt, wird auf der anderen Seite geschimpft, geschwitzt, gesoffen, gekämpft und gevögelt. Es geht um Migrationsgeschichten, Beziehungsprobleme, (körperliche) Autonomie, Ausbeutung, Machismo, den Konsum von Alkohol und anderen Drogen am Arbeitsplatz, das Leben am Existenzminimum und noch viel mehr.

Bei so viel Allegorie schafft Alonso Ruizpalacios das große Kunststück, seine Figuren und deren Probleme ernst zu nehmen, aber nicht in Form eines betroffenen Dramas darzustellen, sondern mit großer Spielfreude in urkomischen Momenten auf ein explosives Ende zulaufen zu lassen. Von Szene zu Szene wechseln die überbordenden Ideen und filmischen Gestaltungsmittel. Vor allem Raúl Briones Carmona als frenetischer Hitzkopf und Rooney Mara als selbstbestimmte, aber zur Passivität gezwungene Protagonistin geben der Geschichte mit ihrem Schauspiel den nötigen Rückhalt. Die frenetische Kameraarbeit lässt die komplexen Abläufe, in denen jeder Handgriff sitzen muss, nie wie ein Kammerspiel aussehen. Farbige Elemente fließen in die Schwarzweißbilder ein, Belichtungszeiten und Bildformate wechseln und überraschende Handlungswenden werden mit der konfrontativen Energie eines Spike Lee in seinen besten Stunden vollzogen. Alleine schon eine atemlose Plansequenz während der Rushhour, in der die gesamte Küche in einer Cherry-Cola-Flut absäuft, wurde wunderbar choreografiert und ist die knapp 2 1/2 Stunden Laufzeit wert. LA COCINA ist eine konsequente und gleichzeitig auch sehr unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem offenen Geheimnis des (nicht nur) US-Amerikanischen Wirtschaftssystems.

Henning Koch

LA COCINA; Regie: Alonso Ruizpalacios; Darsteller*innen: Raúl Briones Carmona, Rooney Mara, Anna Diaz, Motell Foster, Oded Fehr