74. Berlinale: THE OUTRUN von Nora Fingscheidt


THE OUTRUN © The Outrun

Ein Londoner Pub in den frühen Morgenstunden. Die Gäste sind bereits gegangen und das Personal räumt auf, als Rona (Saoirse Ronan) hineingestolpert kommt. Laut lachend und lallend trinkt sie die Reste aus den herumstehenden Gläsern und Flaschen, prostet dem Barmann zu und ignoriert die freundlichen aber bestimmten Hinweise, dass die Bar bereits geschlossen sei. Als der Türsteher sie aus dem Laden schieben will, wehrt sie sich plötzlich heftig und greift ihn an. Er packt sie entnervt und schleudert sie vor dem Eingang auf den Asphalt. Diese erste Begegnung mit der Protagonistin verdeutlicht bereits die unmittelbare Herangehensweise, mit der Nora Fingscheidt den autobiografischen Bestseller von Amy Liptrot verfilmt hat. Der episodische Aufbau der Vorlage spiegelt sich auch in der filmischen Gestaltung wider. Rona stellt sich bei einer Suchtberatung vor, füttert bei lauter Technomusik über ihre Kopfhörer die Schafe auf der Farm ihres Vaters auf den schottischen Orkney-Inseln, wohin sie nach mehr als zehn Jahren in London mit zahlreichen persönlichen Krisen zurückgekehrt ist. In ihren Erinnerungen wird sie jedoch immer wieder mit ihrer Kindheit, Jugend und vor allem der Zeit in der britischen Hauptstadt konfrontiert.

THE OUTRUN knüpft an die Problemfilm-Thematik von Fingscheidts Debüt SYSTEMSPRENGER an, das 2019 unter anderem mit dem Silbernen Bären (damals noch Alfred-Bauer-Preis) bei der Berlinale ausgezeichnet wurde. Das Chaos im Kopf der Protagonistin und der Verlauf ihrer Alkoholabhängigkeit wird als Collage von kurzen Erinnerungsfragmenten wiedergegeben. Bei der zeitlichen Orientierung hilft Ronas Haarfarbe, die bei ihrem Aufenthalt und dem Biologiestudium in London azurblau gefärbt war, während der Farbton bei ihrer Therapie zunehmend herauswächst und bei ihrer Rückkehr nach Orkney, wo sie für einen Vogelschutzbund eine vom Aussterben bedrohte Wachtelart beobachtet, blond und schließlich feuerrot wird. Die Details ihrer schwierigen Familiengeschichte, des Verhältnisses mit ihrer religiösen Mutter und dem bipolaren Vater und der Paarbeziehung in London, welche an ihrem unberechenbaren Verhalten zerbrochen ist, erschließen sich so Stück für Stück und rücken die Geschehnisse in ein neues Licht.

Stellenweise wirkt die Darstellung der von Saoirse Ronan hervorragend verkörperten Figur sehr melodramatisch. Ihr positives Empowerment und die symbolträchtige Suche nach dem Wachtelkönig erscheinen überzeichnet und stehen im Widerspruch zu den ständigen Rückschlägen und täglichen Herausforderungen der Suchterkrankung, die der Film propagiert. Fingscheidt erläutert, dass sie bei ihrer engen Kollaboration mit Liptrot – die auch das Drehbuch geschrieben hat – bewusste Zugeständnisse bei der Adaption von deren Memoiren in Kauf genommen habe. Während sie selbst sich im Anschluss einfach ihren nächsten Projekten zuwenden könne, müsse die Autorin schließlich mit den persönlichen Konsequenzen einer Verfilmung ihrer eigenen Lebensgeschichte umgehen. Diese nüchterne Ehrlichkeit der Regisseurin zeigt, dass sie sich ihrer filmischen Mittel und der Funktionsweise der professionellen Filmindustrie bewusst ist – was auch durch ihre Erfahrungen mit der prominent besetzten US-Produktion THE UNFORGIVABLE begründet sei, bei der sie sich als Filmemacherin entmündigt gefühlt habe, wie sie berichtet.

Am stärksten ist THE OUTRUN dann, wenn wir als Zuschauer die Leerstellen zwischen den ständigen Rückfällen und Neuanfängen füllen sollen und die Zukunft so unklar erscheint, wie die Vergangenheit. Hier findet Fingscheidt die richtige Form und Bilder für eine ehrliche Darstellung des Kampfes mit der Abhängigkeit. Ronas Obsession mit wissenschaftlichen, historischen und folkloristischen Details aus ihrem Leben, die in Found Footage-Montagen wiedergegeben werden, zeigen ihre Suche nach neuen Sinnzusammenhängen. Während die Isolation und Einsamkeit auf Orkney im Kontrast zu den lauten und lebhaften Partynächten in London zu Beginn geradezu erdrückend wirken, kommen sowohl die drastischen Auswirkungen ihrer Abstürze nach dem Rausch, als auch die raue Schönheit der schottischen Inseln zunehmend zum Vorschein. In diesen Momenten wird die Metareflexion von Liptrots Biografie zu einer intensiven filmischen Erfahrung.

Henning Koch

THE OUTRUN; Regie: Nora Fingscheidt; Darsteller*innen: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, Saskia Reeves, Nabil Elouahabi