75. Berlinale: DRØMMER von Dag Johan Haugerud – Goldener Bär

„Nur wer die Sehnsucht kennt …“ (Johann Wolfgang von Goethe)
…die Zeilen eines Evergreens aus dem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von 1795, universell und heute ebenso gültig wie damals und schon davor. Liebe(-skummer) kennt kein Alter. Mit einer Plötzlichkeit rauschen die Gefühle ins Leben und überrollen uns, ohne dass einen jemand vor diesen existentiellen Eindrücken bewahren könnte.
In Dag Johan Haugeruds drittem Film aus der Trilogie SEX, DREAMS, LOVE ist es Johanne (Ella Øverbye), die von der Liebe überrollt wird, das erste Mal in ihrem Leben. Eben noch hatte sie auf der Couch im Cottage ihrer Großmutter von dieser fürsorglichen Zuneigung und aufregenden Nähe geträumt, schon schlägt sie im nächsten Augenblick wie ein Blitz in ihr Leben ein. Doch weil Gefühle nicht immer leicht zu entschlüsseln sind, dauert es noch eine kleine Weile, bis es Johanne endlich dämmert, wie sie sagt. Sie ist in Johanna (Selome Emnetu), ihre neue und überaus engagierte Lehrerin verliebt, die kaum älter als ihre Schüler*innen ist. Um diese neue und große Welt zu verarbeiten und festzuhalten, schreibt sie sie für sich, wie sie betont auf. Doch am Ende ist diese Welt so groß, dass sie sie teilen muss.
Voller Hingabe und äußerst präzise erzählt der norwegische Filmemacher Haugerud von dieser Sucht und dem Verlangen, die im Zustand dieser zärtlichen Anziehung vom menschlichen Körper Besitz ergreifen, dass sich wohl jeder im Saal sofort wieder an diese überbordenden Gefühle zurückerinnert. Johanne beschreibt es wie einen Sprung von einer Klippe, ohne Gewissheit auf Rettung oder Tod. Wie gefangen ist sie von den Gedanken, die sich nur noch um Johanna drehen. Es ist diese Verengung der Wahrnehmung, dieser Tunnelblick, durch den alles um Johanne herum leiser gedreht scheint. Wie ein Trabant seinen Planeten, so umkreist die 17-Jährige ihre Sonne. Unterlegt wird diese aufgewühlte und ruhelose Sehnsucht Johannes und ihr vor Aufregung pulsierendes Herz mit einem wunderbar mitreißenden, flirrend jazzigen Klangteppich aus Streichern, Klavier und Saxophon der Komponistin Anna Berg.
Mit seinem dritten Film DRØMMER (DREAMS) aus der Trilogie SEX, DREAMS, LOVE ist Drehbuchautor und Regisseur Dag Johan Hagerud nach nur einem Jahr zurück auf der Berlinale. 2024 noch im Panorama mit dem ersten Werk SEX aus der Reihe vertreten, geht er nur ein Jahr später bereits mit dem letzten Teil ins Rennen um den Goldenen Bären und gewinnt ihn. Sein Film LOVE aus der Reihe lief im vergangenen Jahr im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig. Alle drei Filme sind Studien über die Liebe, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie mit den Sehgewohnheiten des Erwartbaren brechen. Ob es im Film SEX beispielsweise um Sex ohne Sex geht oder um das sehnsüchtige Begehren in Drømmer verarbeitet zur Literatur, die helfen soll, den Augenblick zu bannen, festzuhalten und für immer zu bewahren. Jurypräsident Todd Haynes beschrieb den Film als „Meditation über die Liebe“, der mit „unglaublicher Zuversicht und Präzision […} den Antrieb des Begehrens“ untersucht und „was das hervorbringt“.
Ergreifend zärtlich, mit einem nahezu 100%igen weiblichen Cast – es gibt genau zwei Männer im Film, die wenig bis gar keinen Bild- und Redeanteil haben – und mit sarkastischen Seitenhieben auf sexistische Filmklassiker wie Flashdance, lädt uns der 60-jährige norwegische Regisseur zu einer Selbstreflexion über die Liebe und die Sprache und das Sein ein. Dag Johan Haugerud ist Feminist, so viel scheint klar.