75. Berlinale: KONTINENTAL ’25 von Radu Jude – Silberner Bär


KONTINENTAL '25 © Raluca Munteanu
KONTINENTAL ’25 © Raluca Munteanu

Der Dinosaurier im Raum

In der ersten Szene durchstreift der Pfandsammler Ion ein herbstliches Waldgebiet. Er sucht Flaschen am Wegesrand, versinkt knöcheltief in einer Pfütze und schimpft vor sich hin. In der nächsten Einstellung steht plötzlich ein riesiges Dinosauriermodell aus Plastik vor ihm, das sich bewegt. Was eigentlich seltsam erscheinen sollte, wirkt hier wenig überraschend. Schließlich sehen wir ein Werk des rumänischen Filmemachers Radu Jude. Der Gewinner des Goldenen Bären für BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN war in den vergangenen Jahren Stammgast bei den europäischen Filmfestivals von London bis Locarno und ist bekannt für seine bissigen Abrechnungen mit den Absurditäten der Gesellschaft. Da gehört ein riesiger Dinopark in Cluj, der Hauptstadt der rumänischen Region Transsilvanien, ebenso dazu, wie die Einblicke in die Architektur des Stadtbildes, das Ion auf der Suche nach seinem Lebensunterhalt absucht. Denn dort wird viel Flaschenpfand hinterlassen, hinter den Toren von Privatresidenzen im Stadtzentrum, als Kerzenhalter vor historischen Mausoleen auf dem Friedhof oder an den touristischen Aussichtspunkten.

Weiterlesen: Die Kritik „Niemand hat Covid durch einen eucharistischen Löffel bekommen“ von Henning Koch zu BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN.

Ion ist in die Jahre gekommen, sieht verlebt aus und findet Unterschlupf im Heizungskeller eines Mietshauses. Doch daraus muss die Gerichtsvollzieherin Orsolya ihn vertreiben, denn ein ausländischer Mietkonzern hat das Gebäude erworben und will damit die eigenen Profitpläne vorantreiben. Als sie mit einer maskierten Einheit der Gendarmerie – deren Mitglieder nicht gerade die hellsten Leuchten zu sein scheinen – in seiner behelfsmäßigen Unterkunft auftaucht, verschafft sie ihm zumindest etwas Zeit, um seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Während ihrer Abwesenheit erhängt Ion sich an einer Heizung. Infolgedessen versucht Orsolya, mit ihren Schuldgefühlen klarzukommen und trifft sich mit Freundinnen, ihrer Familie, spontanen Bekanntschaften und einem Priester.

Der Regisseur Jude ist in seinen Filmen grundsätzlich mehr an der Beobachtung von Hintergründen interessiert, als an den dramatischen Handlungssträngen im Vordergrund. Er setzt seine Figuren als Mittel zum Zweck ein, um die Schattenseiten (nicht nur) der rumänischen Gesellschaft auf improvisierte Weise zu dokumentieren. Dabei schreckt er auch nicht vor dem Einsatz von tiefschwarzem Humor zurück, beispielsweise wenn einer der Gendarmen bei den Wiederbelebungsversuchen von Ion das Lied „Stayin‘ Alive“ der Bee Gees anstimmt, um den richtigen Rhythmus für die Herzdruckmassage zu finden. Überhaupt kommen die Beamten und Handlanger der Regierung hier nicht besonders gut weg. Orsolya wird vom Bürgermeister glatt mit „dem Typen aus SCHINDLERS LISTE“ verglichen, als dieser sich von ihr den genauen Ablauf der Räumung schildern lässt – und diesen muss Orsolya ihren Gesprächspartner*innen immer und immer wieder erläutern.

Vor allem aber offenbart Jude einen tief sitzenden rumänischen Nationalismus in der Region Transsilvanien, ob in den zahlreichen Flaggen im Stadtbild oder in den drastischen und sexistischen Hasskommentaren, die Orsolya aufgrund ihrer ungarischen Wurzeln über ihre Social-Media-Kanäle erhält. Die österreich-ungarische Geschichte Transsilvaniens wird von vermeintlichen Patrioten sowohl on- als auch offline ignoriert, bekämpft und verdrängt. In seiner sachlich-minimalistischen filmischen Gestaltung, die auf einem iPhone gedreht wurde, spielt der Vielfilmer immer wieder auf seine Inspirationen an: von Roberto Rossellinis EUROPA ’51, der nicht nur als Herleitung für den Titel diente, bis Bertolt Brecht, der von den Akteur*innen (stellenweise falsch) zitiert wird.

KONTINENTAL ’25 wurde bei der 75. Berlinale mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch ausgezeichnet. Was auch daran liegen mag, dass es Judes bisher geradlinigster und konventionellster Film geworden ist. Nur noch am Rande sind hier die thematischen Collagen zu finden, die in DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD und BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN ihre Themenfelder auf abstrakte Weise vermittelt haben. Die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich, die Verdrängung der diversen Altbauten durch triste Neubauten und die damit verbundenen sozialen Probleme stehen hier direkt im Vordergrund. Weil das Ganze so unterhaltsam geworden ist und die bissigen Pointen wirklich sitzen und auch die eine oder andere Sympathie für die Figuren erlauben, lässt sich dabei die teilweise überbordende Schematik der Handlung guten Gewissens ignorieren.

Henning Koch

KONTINENTAL ’25; Regie: Radu Jude; Darsteller*innen: Eszter Tompa, Gabriel Spahiu, Adonis Tanța, Oana Mardare, Șerban Pavlu